Corona vernichtet in Lateinamerika Leben und Existenzen

Die Länder Lateinamerikas und der Karibik zählen mehr als 44 Millionen Infizierte und fast 1,5 Millionen Tote, rund die Hälfte davon alleine in Brasilien. Tendenz stark steigend. Die Region repräsentiert zwar nur 8,4 Prozent der Weltbevölkerung, stellt aber gut ein Viertel der globalen Todesopfer. Die Wirtschaftskraft bricht ein, die Armut steigt wieder. Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat hat seinen Partnern vor Ort 8,2 Millionen Euro für 489 Projekte zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und deren Folgen zur Verfügung gestellt. Mit seinem langjährigen Projektpartner Juan Goicochea hat Adveniat beispielsweise in einem Armenviertel Limas eine Sauerstoff-Abfüllanlage aufgebaut und mit Erzbischof Dom Leonardo Steiner in der Amazonas-Metropole Manaus die Armen mit 40.000 Lebensmittelpaketen versorgt.

Manche Nachrichten zum Thema Corona wirken wie aus einem Horrorfilm: in Chile sterben zwei Mitglieder einer Theatergruppe, das ganze Ensemble ist infiziert, und trotz großer Impfgeschwindigkeiten steigen die Neuinfektionen unaufhörlich. In Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires werden die Schulen wieder geschlossen und die nächtliche Ausgangssperre verschärft. In Brasilien fragen sich die Mediziner, warum jetzt auch so viele Babys mit COVID infiziert sind, und im größten Bundesstaat São Paulo gehen die Narkosemittel und sonstigen Medikamente für Intubationen aus. Auch Kuba, das bisher die Krankheit gut im Griff hatte, verzeichnet jetzt mehr als eintausend Ansteckungen pro Tag. Nur in Mexiko tun die Menschen und Gesundheitsbehörden so, als gäbe es die Krankheit gar nicht. Zugleich gehört das Land neben Brasilien, Kolumbien, Argentinien und Peru zu den 15 Staaten weltweit mit der höchsten Infektionsrate und den meisten Todesfällen.

Man hat den Eindruck, die Länder Lateinamerikas verlieren den Kampf gegen die Pandemie. Denn sie kostet nicht nur eine Unzahl an Menschenleben, sondern auch Millionen Arbeitsplätze. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind in mehr als einem Jahr Pandemie in der Region 26 Millionen Jobs vernichtet worden.
 

für die Menschen in Lateinamerika in der Corona-Krise


Auch Errungeschaften in der Armutsbekämpfung sind verloren. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) hat ausgerechnet, dass die Armut in der Region im vergangenen Jahr auf 33,7 Prozent anstieg. Es ist das höchste Niveau seit zwölf Jahren. 209 der 654 Millionen Menschen sind betroffen. Hauptgründe: Die Wirtschaftskraft der Region fiel im ersten Pandemiejahr im Schnitt um 7,7 Prozent. Erschwerend kommen die strukturellen und chronischen Malaisen der Region hinzu: die enorm große Schere zwischen arm und reich, der gigantische informelle Wirtschaftssektor, in dem mehr als die Hälfte der arbeitenden Latinos beschäftigt ist und der keinen sozialen Schutz bietet. Und gerade in diesen Zeiten zeigt sich, wie unterfinanziert und schlecht ausgestattet die öffentlichen Gesundheitssysteme sind, die angesichts der großen Anzahl der schweren Infektionsfälle vielerorts vor dem Kollaps stehen.

Aber das Desaster hat auch mit Staatschefs zu tun, die irrlichtern und die Schwere und Auswirkungen der Corona-Pandemie völlig unterschätzt haben. Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro preist seinen Landsleuten „Wundertropfen“ an, die das Virus „zu 100 Prozent“ neutralisierten. Der radikal rechte brasilianische Staatschef Jair Bolsonaro hat sich mehr als ein Jahr über das Virus und seine Gefahr lustig gemacht und es als eine „kleine Grippe“ bezeichnet. Erst jüngst - auch angesichts politischen Drucks - steuert er zögerlich um. Genauso wie der Brasilianer hat auch der linksnationalistische mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador immer dem Erhalt der Wirtschaftskraft Vorrang vor dem Schutz von Leben gegeben. Er weigert sich bis heute, eine Schutzmaske aufzusetzen, hält an Reisen fest und wollte sich bis vor kurzem trotz seines hohen Alters (67) nicht impfen lassen. 


Die durch Corona verlorenen Jahre beschränken sich aber nicht nur auf Armutsbekämpfung und Wirtschaftskraft. Die verlängerte Schließung der Schulen in fast allen Ländern erhöhe die Gefahr einer „Generationskatastrophe“ in der Bildung, warnen Experten. Die Pandemie hinterlasse Millionen Kinder und Jugendliche ohne Ausbildung und folglich ohne Chance auf dem formalen Arbeitsmarkt. Zumal in fast allen Ländern vor allem in den ländlichen Regionen wegen der mangelnden Verfügbarkeit von Internet die Voraussetzungen für Homeschooling oft nicht gegeben sind.

Während In Chile 82 Prozent der Bevölkerung Zugang zum World Wide Web hat, sind es in Haiti nur 37 Prozent. Der Durchschnitt in Lateinamerika erreicht gerade mal 64 Prozent. In der Folge brechen während der Pandemie mehr Jungen und Mädchen als gewöhnlich die Schule ab. Auch aus der Notwendigkeit heraus, dass sie bei der Sicherung des Familieneinkommens helfen müssen.


Einen Lichtblick gibt es immerhin in Kuba. Die Insel steht nach Angaben von Wissenschaftlern kurz vor der Produktionsreife zweier selbst entwickelter Vakzine. „Soberana 02“ und „Abdala“ befänden sich in der letzten Testphase und könnten noch in diesem Sommer zum Einsatz kommen. Dann wäre die klamme Insel in der Lage, seine elf Millionen Einwohner mit einem eigenen Impfstoff zu schützen und so als erstes Land Lateinamerikas Herdenimmunität zu erreichen. Kuba plant sogar den Export der Impfstoffe, um so auch die große Devisenlücke ein Stück zu schließen.

Text: Klaus Ehringfeld