Für die Indigenen ist Wasser Leben

Für die ursprünglichen Völker im Amazonasgebiet bedeutet Wasser Leben. Stadtbewohner sehen Flüsse dagegen als Wasserstraßen, Energielieferanten und Orte zur Ausbeutung von Ressourcen. Die Anwältin Nancy Verónica Shibuya von der Adveniat Partnerorganisation "Centro Amazónico de Antropología y Aplicación Práctica" (CAAAP) schildert, vor welchen Herausforderungen die indigenen Völker stehen.

Wasserstraße und Energielieferant, der ausgebeutet werden darf, oder Quelle des Lebens? Indigenen und Stadtbewohner blicken ganz unterschiedlich auf die großen Ströme des Amazonasgebietes.
Wasserstraße und Energielieferant, der ausgebeutet werden darf, oder Quelle des Lebens? Indigenen und Stadtbewohner blicken ganz unterschiedlich auf die großen Ströme des Amazonasgebietes. Foto: Bastian Henning/Adveniat.

Es heißt, Indigene seine für die Natur deutlich stärker sensibilisiert als Nicht-Indigene. Stimmt das - oder handelt es sich um einen Mythos?

Nancy Verónica Shibuya: Es stimmt. Der Unterschied in der Sensibilität ist sehr ausgeprägt. Ein Stadtbewohner sieht das Fällen von Bäumen als eine Notwendigkeit an, um Holz zu gewinnen. Ein Indigener dagegen hat große Schwierigkeiten, einen Baum zu fällen, weil dieser für ihn spirituelle Bedeutung haben kann. Das Gleiche trifft für die Verschmutzung einer Lagune zu, denn für die Indigenen bedeutet Wasser Leben, Nahrung, Kontinuität. Der gewöhnliche Stadtbewohner hält die Wasserverschmutzung einfach für eine Ordnungswidrigkeit, nicht mehr.
Es ist schwierig, die indigene Mentalität zu begreifen, die den Menschen mit der Natur verbunden sieht, mit den Pflanzen und den Tieren, mit Gottheiten. Sobald wir das aber verstehen, erklärt sich auch ihre Beziehung zum Amazonasgebiet. Der Regenwald ist aufgrund der Gleichgültigkeit des Staates in Gefahr. Und ich rede nicht allein von Peru, sondern von allen Staaten, auf die sich das Amazonasgebiet verteilt.

Wie arbeiten Sie?

Shibuya: Unsere Arbeit mit den indigenen Gemeinden ist multidisziplinär. Wir leisten nicht nur technische und rechtliche Unterstützung, sondern schulen auch.

Wie funktioniert das konkret?

Shibuya: Bei der rechtlichen Unterstützung geht es etwa um die Beziehungen mit staatlichen Institutionen, zum Beispiel bei Fragen in Zusammenhang mit Landrechten. Was die Technik betrifft, wird erklärt, wie das Megaprojekt Hidrovía Amazónica funktioniert (ein chinesisch-peruanisches Projekt. das eine über 2.500 Kilometer lange Wasserstraße schaffen soll, Anm.d.Red.). Schulungen gibt es zu den unterschiedlichsten Themen. 

Mit der Kampagne Zukunft Amazonas unterstützt Adveniat die indigenen Völker in ihrem Kampf um ihr Überleben.

Das CAAAP arbeitet viel mit dem Volk der Kukama zusammen. 

Shibuya: Die Kukama haben im Laufe der Zeit ihre Sprache verloren. Am Leben gehalten wird sie nur noch von den älteren Menschen. Gemeinsam mit den Indigenen kämpfen wir für eine bilinguale Bildung. Die Kukama leben in enger Verbindung mit dem Fluss. Sie ernähren sich vor allem von Fisch. Der Río Marañón, entlang dessen die meisten Kukama leben, ist inzwischen aber so verschmutzt, dass die staatlichen Behörden sein Wasser als ungenießbar erklärt haben. Folglich gilt dies auch für die Fische. Da die Kukama traditionell viel Fisch essen, sind die Auswirkungen für sie schwerwiegend. Aufgrund ihrer Spezialisierung auf den Fischfang waren landwirtschaftliche Aktivitäten in der Vergangenheit begrenzt. Es gibt nur kleine Parzellen, auf denen sie zum Beispiel Reis und Bananen anbauen.

Wandern deshalb immer mehr Indigene aus dem Amazonasgebiet in Städte wie Iquitos?

Shibuya: Die Migration von Indigenen in die Städte ist Folge der Passivität des Staates. Hier bestehen schwerwiegende Mängel. Zum Beispiel beim Recht auf medizinische Versorgung. Die indigenen Gemeinden haben keine Gesundheitszentren. Es gibt keine Arbeitsmöglichkeiten für die Erwachsenen und keine Bildungschancen für die Kinder. Die Menschen ziehen in die Städte in der Hoffnung, ihre grundlegenden Bedürfnisse dort befriedigen zu können.

Aber die Realität in der Stadt ist doch eine ganz andere...

Shibuya: ...klar gibt es Unterschiede. In den indigenen Gemeinden sind die Menschen permanent in Kontakt mit der Natur. Die Familie ist um einen herum, es gibt enge menschliche Bande. In der Stadt lassen sich die meisten Indigenen von der westlichen Kultur beeinflussen. Sie werden dazu verleitet, ihre kulturelle Identität zu leugnen. Dahinter steht die Absicht, in bestimmten sozialen Milieus anerkannt und nicht diskriminiert zu werden. Obwohl die Mehrheit der Bewohner von Iquitos indigen ist, bestehen sie darauf, aus Iquitos und Stadtmensch zu sein.

Das CAAAP ist eine Institution der katholischen Kirche. Immer wieder hat Papst Franziskus um Vergebung gebeten für das, was den indigenen Völkern angetan wurde.

Shibuya: Im Prozess der Evangelisierung hat die katholische Kirche viele Fehler begangen und viel Schaden angerichtet. Hierfür wurde um Vergebung gebeten. Heute ist das Gesicht der Kirche ein anderes. Sie ist näher an den Menschen und an den Schwachen. Das CAAAP ist ein gutes Beispiel dafür.

Interview: Paolo Moiola 
Übersetzung: Bernd Stößel

Spanischsprachige Quelle: www.comunicacionesaliadas.com/peru-para-los-indigenas-el-agua-significa-vida-alimento-continuidad/