Politisiert euch - aber radikal!
Arbeiterbischof trifft Soziologen

Der brasilianische Arbeiterbischof Reginaldo Andrietta und der deutsche Soziologe Stephan Lessenich haben im Haus am Dom in Frankfurt Wege weg von einer "Wirtschaft, die tötet", hin zu einem weltweiten Arbeiten und Handeln unter menschenwürdigen Bedingungen diskutiert.

Der brasilianische Arbeiterbischof José Reginaldo Andrietta (rechts) im Gespräch mit dem Münchner Soziologen Stephan Lessenich (links) und dem Moderator, dem Publik-Forum-Chefredakteur Wolfgang Kessler.
Der brasilianische Arbeiterbischof José Reginaldo Andrietta (rechts) im Gespräch mit dem Münchner Soziologen Stephan Lessenich (links) und dem Moderator, dem Publik-Forum-Chefredakteur Wolfgang Kessler. Foto: Stephan Neumann

"Wir leben in einer Zeit, in der der Kapitalismus wieder in Form finsterster Barbarei betrieben wird." Schonungslos hat Bischof José Reginaldo Andrietta, der seit Mitte 2016 Arbeiterbischof der brasilianischen Kirche ist, das global herrschende Wirtschaftssystem analysiert und kritisiert. Im Haus am Dom, dem Bildungs- und Kulturzentrum des Bistums Limburg, mitten in der Finanzmetropole Frankfurt sprach sich der Partner des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat für "radikale Lösungen" aus, "die das Problem an der Wurzel packen". Auf der Veranstaltung "'Faire Arbeit. Würde. Helfen.' oder 'Neben uns die Sintflut'?" traf er am Donnerstagabend, 14. Dezember 2017, auf den Münchner Soziologen Stephan Lessenich. Vor mehr als hundert interessierten Zuhörern stellten sich der Bischof aus Brasilien und der deutsche Soziologe moderiert vom Chefredakteur der Zeitschrift Publik Forum, Wolfgang Kessler, der Frage, ob unser Wohlstand Armut und unfaire Arbeitsbedingungen in Lateinamerika, ja im gesamten Süden des Planeten bedingt.

"Wir sind der Neoliberalismus"

Mit einem klaren Ja beantwortete Lessenich diese Frage. Denn: "Wir sind der Neoliberalismus." Lessenich, der seit 2014 Soziologie an der Ludwigs-Maximilians-Universität München lehrt, ließ keinen Zweifel daran, dass er in dieses "Wir" sich selbst und auch alle anwesenden mit einschließt, ganz gleich wie "links-katholisch" oder "umweltbewegt" sich der ein oder die andere auch fühle. Wir alle leben hier gut, weil wir den globalen Süden seiner Ressourcen sowie seiner billig produzierten Agrarprodukte berauben. Auch wenn er es auf Nachfrage vermied, von Schuld zu sprechen, stellte er klar: "Wir spielen eine Rolle in einer Gesellschaft, die von den wirtschaftlichen Verhältnissen, den extremen Ungleichheiten profitiert.“

Die Lebenslügen des Nordens

Lessenich demaskierte die hierzulande verbreiteten "Lebenslügen". Es werde zwar politisch behauptet, man wolle gegen Korruption und für gute Regierungsführung weltweit eintreten. Tatsächlich aber lebten wir von den korrupten, diktatorischen und ausbeuterischen Regimen im Süden. Es werde behauptet, unsere "Hochproduktivitäts-Ökonomie" erwirtschaftet aus sich selbst heraus dank des Ideenreichtums im Land der Tüftler und Erfinder die immensen Gewinne. Tatsächlich sei dies nur möglich, weil man sich der ausbeuterischen "Niedrigproduktivitäts-Ökonomie" bediene. "Die Arbeiter im Billiglohnbereich werden nicht nur ausgebeutet, sondern mit solchen Reden auch noch abgewertet", ärgerte sich Lessenich.

Der brasilianische Arbeiterbischof Andrietta im Haus am Dom
Der brasilianische Arbeiterbischof Andrietta im Haus am Dom. Foto: Stephan Neumann

Diese wechselseitigen weltweiten Verwicklungen innerhalb des einen herrschenden wirtschaftlichen Systems sind allgemein jedoch viel zu wenig im Blick. Bischof Andrietta kritisierte die Gewerkschaften in Europa, die sich im System eingerichtet hätten und lediglich höhere Löhne für ihre Arbeiter forderten. "Wir müssen wieder zum Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit zurückkommen. Wir brauchen klassenkämpferische Gewerkschaften, die die weltweiten Finanzströme aufdecken und gemeinsame Aktion in Nord und Süd von der Basis aus entwickeln", forderte der Arbeiterbischof der Brasilianischen Bischofskonferenz. Er nahm aber auch die Kirche in die Pflicht. "Die prophetische Stimme der brasilianischen Bischöfe ist alt und schwach geworden." Deshalb will Bischof Andrietta neue Allianzen schmieden: ökumenisch mit den anderen Kirchen aber vor allem auch mit den sozialen Bewegungen.

Sein Verbündeter auf diesem Weg ist Papst Franziskus. "Er hat die sozialen Bewegungen eingeladen, was die Bischofskonferenzen in Lateinamerika lange Zeit nicht geschafft haben", so Bischof Andrietta. Der Papst lebe vor, das pastorales und soziales Handeln ganz nah beieinander sind. Als Leitstern sieht Andrietta die dreifache Forderung des Papstes: Kein Landarbeiter ohne Land, keine Familie ohne Dach, kein Industriearbeiter ohne Rechte. Für sie alle gilt: "Faire Arbeit. Würde. Helfen." Damit es aber dazu kommt, "müssen wir uns politisieren", wie Professor Lessenich den Menschen in Frankfurt zurief. "Wir müssen unseren Alltag politisieren, gemeinsam infrage stellen, was wir hier machen."

Weiter Informationen zur Weihnachtsaktion der Katholischen Kirche:

Aktionsplakat "Faire Arbeit. Würde. Helfen."