Eine große Chance für das Land
Adveniat erwartet viel von neuem kolumbianischen Präsidenten

Der Adveniat-Mitarbeiter und Kolumbien-Kenner Thomas Jung setzt große Erwartungen in den neuen kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro. Dieser will für soziale Gerechtigkeit sorgen, wie auch die designierte Vizepräsidentin Márquez.

Der linke Ex-Rebell Gustavo Petro ist zum neuen Präsidenten von Kolumbien gewählt worden. Foto: Senator Gustavo Petro (2019)The LeftCC BY-NC-ND 4.0

DOMRADIO.DE: Gustavo Petro war in seiner Jugend Guerillakämpfer, dann unter anderem Diplomat in Brüssel und Bürgermeister der Hauptstadt Bogota. Herr Jung, Sie haben 27 Jahre lang in Kolumbien gelebt. Was macht den Politiker Petro heute aus? Wofür steht er?

Thomas Jung (Bildungsreferent bei Adveniat): Ich möchte zunächst etwas zu dem Wort Guerillakämpfer sagen, weil ich den Eindruck habe, dass das Wort leicht auch Missverständnisse auslöst. Wenn ich Guerillakämpfer höre, denke ich zunächst an die wahnsinnigen Gewalttaten der beiden Guerillagruppen Farc und ELN in Kolumbien, die viel Unheil angerichtet haben. Aber Gustavo Petro gehörte der Guerilla M-19 an, einer eher städtischen, subversiven Gruppe, die vor allem im Rahmen der Studentenunruhen in den 1970er Jahren auf die großen Ungerechtigkeiten in Kolumbien und die gestohlene Präsidentschaftswahl 1970 Antwort geben wollte. Das zum einen.

Thomas Jung (Bildungsreferent bei Adveniat). Foto: Adveniat/Escher

Zum anderen hat die Guerilla M-19 gewalttätig agiert - aber auf keinen Fall vergleichbar mit Farc und ELN - und ist dann 1990 in einen Friedensprozess eingetreten, der sehr erfolgreich war. Sie haben nicht nur die Waffen niedergelegt, sondern sind auch in die Politik eingetreten und haben von der Politik aus eine gute, glaubwürdige Arbeit gemacht. Dazu gehört Gustavo Petro. Das hat er auch immer wieder als Senator oder Bürgermeister von Bogota gezeigt. Er hat eine Politik gemacht, wie sie sonst kein anderer in Kolumbien an den Tag gelegt hat.

Ich habe ihn einige Male bei Parlamentsdebatten erlebt. Er steht auf und ergreift das Wort gegen die Korruption - natürlich immer in der Gefahr, dafür erschossen zu werden.

Von daher lautet meine Antwort auf Ihre Frage: Er ist eindeutig gegen die Korruption und steht für soziale Gerechtigkeit. Für mich ist er auch kein Sozialist, sondern ein Sozialdemokrat. Er will ernst genommen werden und spricht eine sehr deutliche Sprache. Seine Frau sagt von ihm, er sei ein bisschen starrköpfig. Ein Dickkopf. Ja, er braucht sicherlich auch ein gutes Team, mit dem er dann auch seine Politik machen kann.

Und Friedens- und Menschenrechtsarbeit in Lateinamerika unterstützen.

DOMRADIO.DE: Zu diesem Team gehört die afrokolumbianische Menschenrechtlerin Francia Márquez. Was bedeutet es vor dem Hintergrund, dass es seit dem historischen Friedensabkommen von 2016 immer wieder Morde an Sozialaktivisten gegeben hat und auch die Sozialproteste der vergangenen Jahre immer wieder eskaliert sind, dass diese Frau jetzt mit an der Staatsspitze agieren wird?

Jung: Ich durfte Francia vor einigen Jahren kennenlernen, als sie mit der Gruppe der Opfervertreter in die Friedensverhandlungen mit der Farc auf Kuba gegangen ist und der neue Friedensvertrag ausgehandelt wurde.

Francia vertritt die Frauen, die afrokolumbianische und die indigene Bevölkerung, die im Land wirklich nichts zu sagen haben und nicht nur am Rand stehen, sondern völlig vergessen sind.
Eine ganz entscheidende Aussage von ihr, auch während des Wahlkampfes, war: "Ich trete für die Nadies ein". Das ist ein Wort, das es im Spanischen so nicht gibt (span. nadie heißt auf Deutsch niemand; Anm.d.Red.). Ich trete ein für las Nadies - die weibliche Form-, die Niemande, und für los Nadies, für die, die einfach nicht zählen, nichts wert sind, niedergedrückt werden und auf denen herumgetrampelt wird. Für diese Menschen steht Francia ein.

Gustavo Petro hat sich mit ihr zusammengetan, um diese Präsidentschaft gemeinsam nach vorne zu bringen. Das lässt, glaube ich, einiges Positive von dieser Präsidentschaft erwarten.

DOMRADIO.DE: Die Bischöfe im Land haben den friedlichen Ablauf der Wahlen gewürdigt und von einer Feier der Demokratie gesprochen. Wie steht denn die katholische Kirche generell und wie stehen ihre Adveniat-Partner zu Petro?

Jung: Darauf müsste ich eigentlich zwei Antworten geben: Einerseits hat es bei den Bischöfe in den letzten Jahren einen Wechsel gegeben. Mit Papst Franziskus sind tatsächlich auch mehr offenere Bischöfe zu ihren Ämtern gekommen. Das war leider Gottes in Kolumbien nicht immer so.

Kolumbien zeichnet sich aus als eine der traditionellsten und konservativsten Bischofskonferenzen. Aber mit Franziskus hat sich das ganz ohne Zweifel leicht zum Positiven verändert. Auch das spannende Wort von Franziskus von der Peripherie ins Zentrum greift hier. Es sind wirklich viele Bischöfe, die in Konfliktgebieten tätig waren, dann Bischöfe in wichtigen Bistümern geworden. Das wirkt sich auf die gesamte kirchliche und politische Arbeit aus.

Andererseits sind die Adveniat-Projektpartner und -Projektpartnerinnen direkt an der Basis - ganz unten. Adveniat hat keine Projekte in der Verwaltung oder mit wichtigen Persönlichkeiten, sondern Adveniat arbeitet an der Basis, bei den Ärmsten der Armen, mit indigenen, afrokolumbianischen Menschen und Gruppen.

Petro steht auch dort. Gustavo Petro und Francia Márquez stehen für diese Menschen und dafür, dass diese "Niemande" endlich auch zur Würde gelangen. Hier geht es um soziale Gerechtigkeit.

Ich glaube, dieser Wahlsieg ist eine große Chance für Kolumbien. Ich hoffe, hoffentlich auch mit der Unterstützung der deutschen Regierung, die sich in den letzten Jahren zurückgezogen hat, dass Petro auch diese Regierung durchführen kann und nicht vorher erschossen wird. Das ist leider Gottes in Kolumbien gang und gäbe, dass Politiker und Politikerinnen erschossen werden.

Das Interview führte Hilde Regeniter.