Brasiliens Demokratie ist fundamental für die Weltgemeinschaft

Die Vorfälle in Brasilien betrachtet Adveniat mit Sorge. Der Leiter der Auslandsabteilung des Lateinamerika-Hilfswerks, Thomas Wieland, sieht im Interview mit dem Domradio die Demokratie gefährdet, hofft aber auf die Zivilgesellschaft und die Unterstützung der Kirche.

 

Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro überwinden Absperrungen und verschaffen sich gewaltsam Zugang zum Kongress. Foto: Ueslei Marcelino/reuters.

Gemeinsam und gewaltsam sind Bolsonaros Anhänger in den Kongress eingedrungen, in den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz Brasiliens. Welches Gefühl hat das bei Ihnen hervorgerufen, als Sie die Bilder gesehen haben?

Thomas Wieland: Bei mir hat es Sorge hervorgerufen, denn Brasilien ist nicht irgendein Land, sondern ein wichtiges Land in Lateinamerika und im gesamten Weltkonzert. Es ist eines der drei BRIC-Staaten, neben Russland, Indien und China, eines der großen Schwellenländer. Deswegen sind die politische Entwicklung und die Stabilität der Demokratie in Brasilien fundamental für die gesamte Weltgemeinschaft.

Thomas Wieland leitet die Auslandsabteilung des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat.
Foto: Martin Steffen/Adveniat

Eine Woche lang hat der neue, alte Präsident von Brasilien, Lula da Silva, sein Amt wieder inne. Es ist seine dritte Amtszeit. Bolsonaro, sein Gegner, hatte im Dezember das Land verlassen, ist quasi vor der Vereidigung seines Nachfolgers geflüchtet. Das ist ja nicht üblich. Wie viel Enttäuschung von ihm und seinen Anhängern schwingt da mit?

Wieland: Was in Bolsonaro selbst an Gefühlen vorgeht, weiß ich nicht. Er wollte jedenfalls seinem Nachfolger die Präsidentenschärpe, wie eigentlich üblich, nicht umhängen. Unter den Anhängern von Bolsonaro beobachte ich schon ein starkes Gefühl der Enttäuschung, der Wut und des Frustes.

Bolsonaro ist aktuell zur Behandlung in einem US-Krankenhaus. Jetzt werden Stimmen in den USA laut, er möge doch bitte ausgewiesen werden. Was ist davon zu halten?

Wieland: Die brasilianische Justiz ist in der Lage, mit dem Konflikt selbst umzugehen. Deswegen wäre es angemessen, dass Bolsonaro nach Brasilien kommt, auch, um keine Mythen zu schaffen. Die brasilianische Demokratie, die sich seit der Militärdiktatur etabliert hat, ist auch im Justizwesen in der Lage, mit den inneren Konflikten selbst umzugehen. Ich hielte eine Ausweisung für angemessen.

Für Frieden und Menschenrechte in Lateinamerika.

Demonstrationen gehören ja zur Demokratie dazu. Aber wenn ein Regierungsgebäude erstürmt wird, ist eine rote Linie überschritten. Wie gefährdet ist die Demokratie jetzt in dem lateinamerikanischen Land?

Wieland: Die brasilianische Gesellschaft ist gespalten. Die Spaltung geht durch die Familien und man sah das an der Wahl im Oktober des letzten Jahres, wo Lula da Silva die Präsidentschaftswahl ja gerade mal mit weniger als zwei Prozent für sich entschieden hat. Die Demokratie ist insofern gefährdet, als dass die Demonstranten ja nicht nur das Parlament angegriffen haben, sondern auch den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof.

Lula ist in der Lage, Brasiliens Demokratie zu schützen

In der Amtszeit von Bolsonaro sind die demokratischen Institutionen enorm beschädigt worden. Durch Diskurs, durch Entzug von Geldern, durch Positionierung von Bolsonaro-Anhängern - in erster Linie Militärs -  an entscheidenden Posten. Das ist die Gefahr, die besteht. Allerdings hat Lula da Silva gestern die Gouverneure der 26 Bundesstaaten und die Vizegouverneurin des Hauptstadtdistrikts zusammengerufen. Und die haben einmütig Entscheidungen getroffen. Zum Beispiel, dass die Lager der Bolsonaro-Anhänger vor den Militärkasernen entfernt werden. Festnahmen erfolgen, nicht nur in der Hauptstadt, und diese Vorgänge werden geahndet. Man sieht, dass nach einer Woche an der Regierung Lula da Silva in der Lage ist, auch gegensätzliche Politikerinnen und Politiker zusammenzuführen, um eindeutig die Demokratie zu schützen.

Und auch langfristig wieder Herr der Lage zu werden?

Wieland: Das hoffe ich doch. Dabei wird ihn die Zivilgesellschaft unterstützen, die in Brasilien sehr gut etabliert und breit aufgestellt ist. Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern ist Brasilien das Land, in dem sich die Stimmen des Volkes über Vereine und Verbände am besten artikulieren. Auf sie wird es ankommen.

Wie ist es mit den Kirchen? Welche Aufgabe haben die jetzt? Wo sehen Sie da Zugzwang?

Wieland: Die Kirchen sind überall präsent. Man muss etwas unterscheiden: Die katholische Kirche ist da Vorreiterin und über die kapillaren Strukturen der Pfarreien und Ordensleute in vielen Regionen des Landes präsent und auch stark an der Seite der Armen. Es wird darauf ankommen, auch innerhalb der Kirchen klare Position zu beziehen und im Sinne von Papst Franziskus die Optionen klar zugunsten der Armen und zugunsten der Umwelt zu setzen. Dann ist der Weg klar und dann werden die Kirchen eine wichtige Stimme sein und auch handfest das umsetzen, worauf es jetzt ankommt: zugunsten der Armen und zugunsten der Umwelt aktiv zu werden. Adveniat steht an der Seite der Menschen, die sich dafür einsetzen.

Das Interview führte Tobias Fricke von Domradio.