"Patentrechte aufheben"
Adveniat fordert Impfstoffe für Arme

Lateinamerika ist Corona-Hotspot. Um die Ausbreitung des Virus dort zu stoppen, fordert der Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat Pater Michael Heinz im Interview mit dem Domradio eine temporäre Aufhebung des Patentschutzes und nimmt die Staaten und Regierungen in die Pflicht.

Ob medizinische Versorgung oder Impfungen – sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen zahlen wieder einmal den höchsten Preis. Foto: Pohl/Adveniat

Wie katastrophal sind die Zustände in Lateinamerika aktuell in Hinblick auf die Pandemie?

Pater Michael Heinz: Nun, Sie haben es vielleicht in den Medien mitverfolgt, in Lateinamerika erreichen wir fast die 20 Millionen-Grenze der Infizierten und mit über 600.000 Toten ist Lateinamerika sicherlich weltweit ein Hotspot. Ganz besonders stark betroffen ist Brasilien, wo die zweite und inzwischen die dritte Welle auch im Amazonasgebiet in Manaus angekommen ist. Wir sind dort mit Erzbischof Steiner sehr gut in Kontakt, der von verheerenden Zuständen berichtet. Der Sauerstoff wird knapp und die Menschen sterben, weil ihnen auch die Grundnahrungsmittel fehlen, weil es eben auch schon lange keine Arbeit mehr gibt. Das Sozialsystem in Brasilien oder in Lateinamerika allgemein ist ja nicht so gut, wie das bei uns der Fall ist, sodass die Leute überhaupt nicht abgesichert sind.

Für die von der Corona-Krise betroffenen Menschen in Lateinamerika.

Pater Michael Heinz, Adveniat-Hauptgeschäftsführer. Foto: Adveniat

Was da noch hinzukommt: Die Menschen in ärmeren Regionen der Welt haben oft gar keinen oder nur begrenzten Zugang zum Corona-Impfstoff, so auch in Lateinamerika. Was sollten die EU und andere Industriestaaten Ihrer Meinung nach tun? Welche Verantwortung hat man hier?

Pater Heinz: Ich denke, es ist allerhöchste Zeit, dass wir an die Patente rangehen. Es ist ja auch gesetzlich abgesichert, dass diese Patente aufgehoben werden können, wenn ein Notfall eintritt. Und diese Pandemie ist ein Notfall, dessen Folgen sich ganz besonders in den Ländern des Südens zeigen. Sie sind ja noch stärker betroffen. Wir merken selbst hier in Deutschland, wie schleppend die Impfungen vorangehen, eben weil die Patente geschützt sind. Das ist grundsätzlich gut, aber in so einem Fall müsste man wirklich die Patente aufheben, sodass die Produktion verstärkt werden kann und somit auch gerade die Menschen in den Ländern des Südens geimpft werden können.

Die Industrieländer argumentieren, dass der Patentschutz für den Impfstoff nicht der Grund sei, warum so wenig Impfstoff produziert wird. 

Pater Heinz: Ich sehe das anders. Es gibt auch hier in Deutschland, das wissen wir, Unternehmen, die mehr Impfstoffe produzieren könnten, wenn sie das dürften. Davon hätten wir alle was. Sowohl wir hier in den reichen Ländern des Nordens, als auch vor allen Dingen im Süden.
Der Süden, gerade Brasilien, wird immer gern als Testland genutzt. Auch Pfizer und AstraZeneca haben dort getestet. Aber wenn es um die Verteilung des Impfstoffs geht, stehen Länder, die nicht so viel Geld haben, wie immer an letzter Stelle.

Eine Begründung, wieso der Patentschutz nicht aufgehoben wird, ist ja auch, dass sich Investitionen in Medikamentenforschung nur dann lohnen, wenn die Firmen bei Erfolg damit auch Geld verdienen können. Ist das in Ihren Augen ein vertretbares Argument, wenn Sie an die Situation in Lateinamerika denken?

Heinz: Nein, ist es nicht, weil gerade in den Impfstoff gegen das Corona-Virus sehr viele Steuergelder investiert wurden. Vor allen Dingen ist es ja nicht so, als würden jetzt die großen Konzerne, die Chemie- und Pharmakonzerne nichts verdienen. Es geht auch nicht darum, den Patentschutz für immer aufzuheben, sondern eben jetzt in dieser Situation. Das könnte man ja auch auf ein Jahr oder zwei Jahre ausdehnen. 

Die Covax-Initiative der WHO hat das große Ziel, die Corona-Impfstoffe weltweit gerecht zu verteilen. Schätzen Sie dieses Ziel angesichts der aktuellen Diskussion gerade als realistisch ein?

Heinz: Es ist realistisch, aber es geht auch dort viel zu langsam. Bei der Covax-Initiative fehlen noch Milliarden, um die Finanzierung sicherzustellen. Die wird dann auch an letzter oder vorletzter Stelle stehen, dann kommen erst die Schwellenländer und dann kommen erst die Menschen, die es am nötigsten haben. Wir sehen ja auch in Deutschland, wie langsam das alles vorangeht. Als Lateinamerika-Hilfswerke setzen wir uns mit Papst Franziskus dafür ein, dass diese Patentrechte im Moment aufgehoben werden. Das kann ja, wie gesagt, auf eine Zeit begrenzt sein.

Das Interview führte Julia Reck vom Domradio