Chile in der Corona-Krise
- „Wenn uns das Virus nicht tötet, tötet uns der Hunger“

Seit den blutigen Demonstrationen sind in Santiago de Chile im Zuge der Corona-Pandemie nun erstmals wieder Militärs auf den Straßen. Und die Corona-Beschränkungen verschärfen die Nöte der Bewohner der Armen- und ArbeiterInnenviertel in Chiles Hauptstadt. Sie protestieren und unterstützen sich gegenseitig.
 


Die Bewohner der Gemeinde El Bosque am südlichen Stadtrand von Chiles Hauptstadt Santiago schlagen mit Holzlöffeln auf leere Kochtöpfe und Pfannen. „Cacerolazo“ heißt diese Protestform in Chile. „Wenn uns nicht das Virus tötet, tötet uns der Hunger“, steht auf einem der Plakate der DemonstrantInnen. „Das Problem ist nicht die Quarantäne, sondern die Abwesenheit des Staats, der sich nicht um sein Volk kümmert“, sagt einer von ihnen. Wenig später trifft die Polizei ein. Mit Wasserwerfer-Fahrzeugen und Tränengas treibt sie die Menschen auseinander, die in alle Richtungen rennen.

Der 28-jährige Gonzalo Carpintero ist mit seinem Fahrrad zum Protest gekommen. So konnte er schneller vor der Polizei fliehen. Er ist arbeitslos und lebt zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und ihren zwei Kindern. „Der Hunger war vorauszusehen. Es gab auch schon vorher Familien mit geringen Einkommen, aber mit der Pandemie ist es noch schlimmer geworden. Anstelle von Unterstützung schickt die Regierung Repression“, sagt er.

Sozialer Notstand verstärkt sich durch Corona noch mehr

Präsident Sebastián Piñera hat am 18. März wegen der Coronavirus-Pandemie den Ausnahmezustand erklärt, seitdem patrouillieren Militärs auf den Straßen. Ausgangsbeschränkungen wurden nur zögerlich angeordnet. Erst als die Zahl der Infizierten im Mai rasant anstieg, wurde die gesamte Hauptstadt unter Quarantäne gestellt.

Chile wurde vom Coronavirus in einer Phase des politischen Umbruchs überrascht. Im Oktober 2019 waren Proteste ausgebrochen, die sich zu einem nationalen Aufstand entwickelten. Die Aufstände richteten sich gegen die soziale Ungleichheit und das neoliberale Wirtschaftssystem, das in der Verfassung aus der Pinochet-Diktatur verankert ist. Eigentlich hätte am 26. April ein Verfassungsreferendum stattfinden sollen. Aber es wurde wegen der Coronavirus-Pandemie auf Oktober verschoben. Die sozialen Probleme, die die Proteste im Oktober ausgelöst hatten, werden durch die Corona-Krise noch mehr verschärft.
 

für die Menschen in Lateinamerika in der Corona-Krise


„Es gibt eine zweite Protestwelle wegen des Hungers“, sagt Carpintero. „In Chile wird immer von Entwicklung geredet. In den Reichenvierteln ist alles schön, da ist es wie in einem anderen Land. Aber hier sieht es anders aus. Hier gibt es keine Hochhäuser aus Glas, keine Büros. Hier leben die Menschen, die diese Hochhäuser bauen und die den UnternehmerInnen das Geld erarbeiten.“

Über 160.000 Fälle von Covid-19 gibt es Mitte Juni in Chile, die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt bei über 5.000, 90 Prozent davon stammen aus der Hauptstadt. Am schnellsten breitet sich das Virus in den dicht besiedelten Armen- und ArbeiterInnenviertel am Stadtrand aus wie El Bosque, La Pintana, San Bernardo und Puente Alto. Die Zahl der Todesfälle liegt bei fast 3.000. Die Regierung wird jedoch vorgeworfen, falsche Zahlen zu veröffentlichen, unter anderem von der Journalistin Alejandra Matus, die durch ihre Recherchen viel höhere Todeszahlen feststellte.

Das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Zusammenbruch

Fabián Araneda arbeitet in der öffentlichen Gesundheitsversorgung in der Gemeinde La Pintana und ist Gewerkschaftsführer. „Das öffentliche Gesundheitssystem befand sich schon vor dem Coronavirus in einer Krise, jetzt steht es kurz vor dem Zusammenbruch. Es wird von den Arbeitern und Arbeiterinnen aufrechterhalten, die unter extrem prekären Bedingungen arbeiten“, sagt er. Auch Araneda kritisiert die Statistiken des Gesundheitsministeriums: „Es gibt viele Todesfälle, die nicht als Covid-19-Tote registriert werden.“
 

Lateinamerika hat sich zum Epizentrum der Corona-Pandemie entwickelt. Während in Europa die Infektionszahlen zurückgehen, steigen sie in Lateinamerika rasant an. Adveniat hat einen Nothilfe-Fonds in Höhe von 2,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um die Menschen medizinisch, sowie mit Lebensmittel- und Hygienekits zu versorgen. Mehr dazu


Die Arbeitsbedingungen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind prekär, es fehlt an medizinischen Mitteln und Personal. Eine Kollegin von Araneda ist an Covid-19 erkrankt und sie ist nicht die einzige. Ende Mai haben sich bereits 6.840 MitarbeiterInnen der Krankenhäuser infiziert. „Für die Regierung ist die Wirtschaft wichtiger als die Gesundheit und die Leben der Menschen. Wir brauchen Maßnahmen, damit die Menschen in Würde die Quarantäne einhalten können“ sagt Araneda.

Arbeitslosgigkeit liegt auf dem höchsten Wert der letzten zehn Jahre

Die Regierung hat stattdessen ein Gesetzesdekret erlassen, das Unternehmen erlaubt, die Verträge der Angestellten zu suspendieren und ihnen keinen Lohn zu bezahlen. Die Arbeitslosigkeit liegt auf dem höchsten Wert der letzten zehn Jahre. Hinzu kommt, dass ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung in Chile im informellen Sektor arbeitet, also gar keinen Vertrag hat. Viele Menschen haben deshalb jetzt keinerlei Einkommen. Präsident Piñera hat zwar 2,5 Millionen Hilfspakete mit Lebensmitteln angekündigt. Die sollen aber nur 70 Prozent der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung erhalten und die Verteilung dauert über einen Monat.

Bei den meisten Familien ist bisher keine Hilfe angekommen. Um sich gegenseitig zu unterstützen, organisieren deshalb immer mehr Menschen „ollas comunes“ in der Nachbarschaft, solidarische Suppenküchen. Auch die 31-jährige Stephanie Hurtado hilft so ihren NachbarInnen. Sie ist Präsidentin einer „Junta de Vecinos“, einer Nachbarschaftsvereinigung in der Gemeinde La Pintana. Drei Mal in der Woche organisiert sie eine „olla común“ und vereilt 200 warme Mahlzeiten an die NachbarInnen, die sonst Hunger leiden würden. „Wir müssen uns gegenseitig helfen, weil der Staat uns im Stich lässt“, sagt sie.

Text: Sophia Boddenberg, Santiago de Chile