Gefängnisrevolten: "Je mehr in Haft sind, desto mehr Geld fließt"

Der Gefängnisausbruch in Belem mit mehr als 20 Toten ist ein weiteres Beispiel für die generellen Probleme in Brasiliens überfüllten Strafanstalten. Der Priester Valdir João Silveira leitet mit Caroline Oliveira de Menezes die Gefängnisseelsorge in Brasilien, die vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird. Im Interview sprechen die beiden über die Gründe für Gewalt und überfüllte Gefängnisse, aber auch über mögliche Lösungsansätze.

Brasiliens Gefängnisse sind überfüllt. Gewalt, Morde und Aufstände gehören zum Alltag.
Brasiliens Gefängnisse sind überfüllt. Gewalt, Morde und Aufstände gehören zum Alltag. Foto: Bastian Henning

Was sind die Ursachen von Kriminalität und Gewalt in Brasilien?

Padre Valdir João Silveira: Die Ursachen sind strukturell. Schaut man sich an, wer in den Gefängnissen sitzt, dann findet man vor allem junge Menschen aus armen Familien. Es sind Afrobrasilianer, Menschen, die nicht lesen und schreiben können. Sie haben keine Chance im Leben und werden oftmals kriminell. Der Staat kümmert sich aber nicht um sie. Für sie gibt es keine Bildungs- und Freizeitangebote. Sie werden nicht gefördert. Der Staat investiert in die Ober- und Mittelschicht, aber das hilft den Armen nicht.

Wieso kam es zu einem Anstieg der Gefangenenzahl, vor allem auch bei Frauen?

Silveira: 2006 trat ein neues Drogengesetz in Kraft. Auch wer nur geringe Mengen illegaler Drogen besitzt, wird so behandelt, als wäre er ein großer Drogenhändler. Das trifft vor allem arme Menschen. Reiche Leute sind für die Justiz nur normale Konsumenten. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Staat die Armen und Arbeitslosen im Visier hat.

De Menezes: Die Anzahl der Frauen im Gefängnis hat in den letzten Jahren um 500 Prozent zugenommen. Die meisten waren im Besitz von kleinen Drogenmengen, als sie verhaftet wurden. Frauen werden beim Drogenhandel oft als Kurier missbraucht und geschnappt.

Was tut der Staat gegen überfüllte Gefängnisse?

Silveira: Niemand hat Interesse daran, die Probleme zu lösen. Im Gegenteil: Es ist sehr viel Geld im Spiel. Je mehr Menschen im Gefängnis sitzen, desto mehr Geld fließt für den Unterhalt der Gefängnisse. Daher ist dieser Bereich sehr anfällig für Korruption und Geldmissbrauch.

De Menezes: Man könnte sagen, dass es ein gut funktionierendes Geschäft für den Staat ist. Es ist rassistisch, es ist ein Macho-Geschäft und es fördert Klassenunterschiede. In den Gefängnissen sitzen die Armen, die Schwarzen, die Menschen aus den Favelas, die kaum Schulbildung haben. Das Ziel ist es, diese Bevölkerung wegzusperren. Damit ist der Staat sehr erfolgreich.

"Wir wollen eine Entmilitarisierung der Polizei"

Was schlagen Sie als Lösung vor?

Silveira: Wir diskutieren mit 40 anderen Institutionen in Brasilien, wie man die Zahl der Gefängnisse reduzieren kann. Dazu gehört auch, dass wir den Leuten draußen erzählen, wie die Situation in den Gefängnissen tatsächlich ist. Konkret haben wir drei Vorschläge. Wir wollen mehr Mediation, eine Entkriminalisierung kleiner Drogenmengen und eine Entmilitarisierung der Polizei.

Wie geht die brasilianische Gesellschaft mit Kriminellen um?

Silveira: Die große Mehrheit der Bevölkerung orientiert sich an den Massenmedien im Land. Vor allem Polizeisendungen sind beliebt, in denen sensationsheischend über Verbrecher berichtet und Hass gesät wird. Ein Großteil der Bevölkerung sagt: „Ein toter Gefangener ist ein guter Gefangener.“ Sogar in der katholischen Kirche gibt es Leute, bis hin zu Priestern, die das sagen. Das macht unsere Arbeit natürlich schwierig. Die Leute haben keine Ahnung, wie es in den Gefängnissen tatsächlich zugeht. Auf uns lastet eine historische Verantwortung. Ich denke an die getöteten indigenen Völker, an die Sklaven – uns werden zukünftige Generationen fragen, wie wir gehandelt haben, als Menschen verletzt und getötet wurden. Und dazu gehören auch die Menschen, die in Gefängnissen sitzen. Es herrschen dort Verhältnisse, die man nicht mal Tieren zumuten würde.

"Mütter werden lange Zeit von ihren Kindern getrennt"

In welchen Bereichen sind die Gefangenen besonders auf Ihre Hilfe angewiesen?

Silveira: Die Frauen und Männer erwarten von uns, dass wir uns für ihre Rechte einsetzen. Sowohl vor Gericht, als auch in den Gefängnissen. Sie haben ein Recht auf Gesundheitsversorgung, eine menschenwürdige Unterbringung, Bildung und Arbeit. Hier versagt die Politik in Brasilien.

Wie hilft Ihnen Adveniat bei Ihrer Arbeit?

De Menezes: Sie helfen uns bei der Aus- und Weiterbildung der freiwilligen Helfer und bei der Unterstützung inhaftierten Frauen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Denn Frauen, vor allem mit Kindern, leiden besonders unter den prekären Haftbedingungen. Die meisten Frauen sind jung. Zwei Drittel sind jünger als 29 Jahre, 78 Prozent sind Afrobrasilianerinnen, 85 Prozent sind Mütter. Viele sind im Gefängnis, weil sie geringe Mengen Drogen besaßen, was zu langen Haftstrafen führt. Dadurch werden die Mütter lange Zeit von ihren Kindern getrennt.

Das Interview führte André Wielebski