Die Menschen wollen einen Wandel
Haiti zehn Jahre nach dem Erdbeben

Mehr als zwei Drittel der Haitianer leben auch zehn Jahre nach dem Erdbeben unterhalb der Armutsgrenze. Die aktuellen Proteste gegen die korrupten Eliten des Landes zeigen: Die Menschen wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Schwester Helena Margarida Schroeder hat mit anderen brasilianischen Schwestern in Corail ein Sozialzentrum aufgebaut, in dem auch unterernährte Kinder intensiv betreut werden. Foto: Adveniat/Martin Steffen

„Ich lag unter einem Schrank. Deshalb haben mich keine Steine getroffen.“ Fifi saß an ihren Hausaufgaben, als am 12. Januar 2010 die Erde in Haiti bebte. Schätzungen zufolge starben 250.000 Menschen, meist begraben unter den eingestürzten Häusern. „Es war schrecklich. Ich habe viele Tote gesehen, zerschmettert vom Beton oder eingeklemmt in ihren Autos“, erinnert sich die heute 22-Jährige.

Damals lebte sie mit ihrer Familie in einem viergeschossigen Haus in der Hauptstadt Port-au-Prince. „Die ersten Monate haben wir mitten in der Stadt auf dem Champs de Mars gewohnt. Ohne Zelt, ohne Nahrung und ohne Hilfe.“ Nach einigen Stationen sind Fifi und ihre Familie nach Corail gekommen. „Es gab dort praktisch nichts. Kein Wasser, keinen Strom und keine Toiletten. Viele waren krank. Es gab die Cholera. Alles war voller Mücken, die uns immer gestochen haben.“

Für die Menschen in Haiti.

Das ursprünglich provisorisch angelegte Lager für Erdbebenopfer im äußersten Norden der Hauptstadt ist immer weiter gewachsen. In dem neu entstandenen Stadtteil aus Zelten, Verschlägen, Hütten und – überwiegend ohne Genehmigung gebauten – Häusern leben zehn Jahre nach dem Beben geschätzt 400.000 Menschen. Die milliardenschwere internationale Hilfe, die 2010 medienwirksam anlief, ist bei ihnen nie angekommen.

Margit Wichelmann, Haiti-Referentin des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. Foto: Steffen/Adveniat

„Corail spiegelt all das wider, was falsch gelaufen ist“, sagt Margit Wichelmann, Haiti-Referentin des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. „Die Hilfe kam unkoordiniert von außen und war leider viel zu oft mit wirtschaftlichen Eigeninteressen der Geber verquickt. Keine der haitianischen Regierungen der vergangenen Jahre war in der Lage, den Wiederaufbau gezielt zu steuern. Und aufgrund der in Haiti systemischen Korruption ist das Geld in den Taschen der reichen Elite gelandet, während mehr als zwei Drittel der Bevölkerung bis heute unterhalb der Armutsgrenze leben“, so die ernüchternde Bilanz der Haiti-Expertin.

„Bis heute gibt es keinen Brunnen in Corail. Jeder Tropfen Wasser muss gekauft werden“, erklärt Schwester Helena Margarida Schroeder. Sie ist eine von drei Schwestern, die von der Brasilianischen Ordensleutekonferenz und der Bischofskonferenz 2010 nach Haiti geschickt wurden. Bis heute herrschen in Corail Armut, Hunger und Durst. „Wir können den Menschen kein Geld geben. Doch wir bieten ihnen die Möglichkeit, Fertigkeiten zu erlernen, mit denen sie dann Geld verdienen können“, erklärt Schwester Helena das Konzept ihres vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat seit Jahren kontinuierlich unterstützten Projekts. In der Bäckerei, der Besenbinderei und der Werkstatt für Kunsthandwerk stellen Frauen und Jugendliche Produkte her, die in Haiti, aber dank der Kontakte der brasilianischen Schwestern auch im Ausland verkauft werden. „Von dem Geld können sie ihre Familie ernähren oder die Schulgebühren bezahlen“, erläutert Schwester Helena.

Handarbeitsgruppe im Sozialzentrum "Pwojé Solidarité" in Corail, einem Armenviertel im Norden von Port au Prince.

Das Armenviertel entstand nach dem Erdbeben im Januar 2010. Zunächst als provisorisches Flüchtlingslager geplant, wuchs Corail ungeplant weiter, inzwischen wohnen in der Gegend ca. 400.000 Menschen unter schweren Bedingungen.

Im Sozialzentrum werden die Kinder regelmäßig untersucht und gewogen und gegebenenfalls mit Zusatznahrung versorgt.

„Projekte, die auf Bewusstseinsbildung setzen und Eigeninitiative fördern, führen zu nachhaltigen Veränderungen“, sagt Adveniat-Expertin Margit Wichelmann. Die Zwei-Klassen-Gesellschaft einer superreichen dünnen Elite, die zum Shoppen nach Miami jettet, und einer mittellosen Bevölkerungsmehrheit werde von den Armen häufig als Gott gegeben hingenommen. „Doch junge Haitianer, die bei unseren Projektpartnern die Vision einer anderen Welt erlebt haben und ihre Rechte kennenlernen, sind bereit, ihr Leben, ihre Zukunft selbst in die Hand zunehmen“, beobachtet Wichelmann. Die auch in Haiti weit verbreiteten neuen Medien und Handys werden richtig angewendet zu Bildungsmitteln. „Dass die Schulen aufgrund der Proteste seit Oktober geschlossen sind, ist für Haitis Jugend natürlich eine Katastrophe“, sagt Adveniat-Referentin Wichelmann.

"Aufgedeckt wurde nur die Spitze es gigantischen Eisbergs Koruption"

Die seit Monaten anhaltenden Proteste infolge des Skandals um die veruntreuten Milliarden des Petro-Caribe-Fonds haben das Leben in Haiti praktisch zum Erliegen gebracht. Das Geld aus verbilligten Ankäufen von Erdöl aus Venezuela war für den Aufbau der Infrastruktur und Hilfsprojekte gedacht. Gelandet ist es jedoch in den Taschen von Politikern und Unternehmern, wie der Rechnungshof öffentlich gemacht hat. Darin verwickelt ist wohl auch Präsident Jovenel Moïse, der nur noch von den korrupten Eliten des Landes und dem Ausland gestützt wird. „Aufgedeckt wurde nur die Spitze des gigantischen Eisbergs Korruption“, ist Wichelmann überzeugt. Ein Hoffnungszeichen ist für die Haiti-Referentin des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, dass die Bevölkerung sich im Gegensatz zu früheren Zeiten einig ist: „Die Menschen wollen einen fundamentalen Wandel. Ein Ende der Korruption. Eine neue Führungsriege.“

Für die Menschen in Haiti.

In Corail bleiben die Schwestern mit ihren Angeboten der Hoffnungsanker für die Menschen. Neben den Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten werden unternährte Kleinkinder mit einer selbst hergestellten Spezialnahrung aufgepäppelt, Schulkinder werden bei Hausaufgaben betreut und Jugendliche können ihre Freizeit mit Musik und Sportangeboten gestalten. Die 32-jährige Lovelie Dieudonné arbeitet als Köchin im Zentrum und lebt mit ihren heute vier Kindern in einem der Häuser, die die Schwestern für Familien gebaut haben. „Mein Traum ist es, dass es meinen Kindern später besser geht und sie zu echten Citoyens (Bürgern) werden“, sagt Lovelie Dieudonné, die als Alleinerziehende ohne Verwandte in Corail auf sich gestellt ist.

„Haitis Hoffnung sind die Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen“, ist Margit Wichelmann überzeugt. „Wer verhindern will, dass die Hilfe zur Beute der korrupten Eliten wird, muss die vertrauenswürdigen Partner an der Basis fördern.“ Genau dafür nutzt das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat die kirchlichen Strukturen, die bis in die entlegensten Armenviertel des Landes zu Schwester Helena, Fifi, Lovelie und den vielen anderen reichen.

Text: Martin Steffen/Stephan Neumann