Bandenterror und Armut
Haitis Kreislauf der Unsicherheit

Staatspräsident Jovenel Moise fordert die internationale Gemeinschaft auf, Haiti im Kampf gegen bewaffnete Banden zu helfen. Das Land versinkt in Chaos und Dauerkrise - und Moise ist selbst Teil des Problems. Kriminelle Gangs und die Covid-Pandemie haben die Sozialproteste gegen den Präsidenten zum Erliegen gebracht.

Angst vor Covid und Banden vertreibt die Menschen von Haitis Straßen

Die Sozialproteste gegen Präsident Moise sind von Haitis Straßen verschwunden. Grund: Die Angst der Menschen vor Covid und der Gewalt krimineller Banden. Foto: Martin Steffen/Adveniat

Seit Monaten erlebt Haiti eine Welle von Gewalt, Sozialprotesten und Kriminalität. Nun hat sich der Staatspräsident des ärmsten Karibikstaates an den Rest der Welt gewandt. In einer halbstündigen Rede rief Jovenel Moise am Sonntag zu mehr Engagement der internationalen Gemeinschaft sowie aller Sektoren der Gesellschaft im Kampf gegen die Unsicherheit auf. Ein Eingreifen einer UN-Truppe wünschte Moise allerdings ausdrücklich nicht.

"Das Land befindet sich seit 18 Jahren in einem Inferno der Gewalt - ein höllischer Kreislauf der Unsicherheit. Und der zwingt uns in eine Lage, in der wir ständig gezwungen sind, Feuer zu löschen", so der Präsident. Er habe die Armee angewiesen, die Polizei im Kampf gegen die Kriminalität zu unterstützen.

Adveniat Haiti-Referentin Margit Wichelmann

Adveniat Haiti-Referentin Margit Wichelmann. Foto: Martin Steffen

Wie die Haiti-Referentin des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat berichtet, haben die kriminellen Gangs die Sozialproteste gegen Präsident Moise verdrängt: „Derzeit gibt es noch wenige Revolten gegen den Präsidenten, da die Angst vor den Gangs größer ist und man sich nicht auf die Straße traut.“ Sollten die Gangs unter Kontrolle gebracht werden, so die Prognose der Adveniat-Projektpartner vor Ort, werde sich der Unmut der Bevölkerung auch wieder offen auf der Straße zeigen. „Damit werden wie in der Vergangenheit aber wohl auch starke Unruhen verbunden sein. Was für ein unmenschlicher Teufelskreis gerade für die arme Bevölkerung, die unter den gewalttätigen Auseinandersetzungen egal aus welcher Richtung am meisten leidet“, so Haiti-Expertin Wichelmann.

"Man hat Corona in Haiti völlig unterschätzt"

Hinzu kommt, dass sich die Corona-Pandemie immer weiter ausbreitet. Menschen mit schweren Verläufen gelangen nicht zum Arzt, da der Transport dorthin aufgrund der agierenden Gangs zu gefährlich wäre – abgesehen von der notorisch unzureichenden Gesundheitsversorgung in Haiti. „Die Gangs haben noch nicht einmal in einem solchen Fall Erbarmen“, fasst Adveniat-Expertin Wichelmann die Situation zusammen. „Außerdem gibt es bis heute in Haiti keinen Impfstopf. Wer kann, besorgt sich im Ausland eine Impfung. Somit steht die Bevölkerung dieser neuen Covid-Welle völlig unvorbereitet gegenüber.“ Für Margit Wichelmann steht fest: „Man hat Corona in Haiti völlig unterschätzt.“

So leben zum Beispiel in Corail, einem der größten Armenviertel der Hauptstadt Port-au-Prince brasilianische Schwestern mitten unter den Armen. Die langfristige finanzielle Absicherung durch das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat ermöglicht es, dass sie auch in der Pandemie mit ihren Angeboten der Hoffnungsanker für die Menschen bleiben. Neben den Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten werden unternährte Kleinkinder mit einer selbst hergestellten Spezialnahrung aufgepäppelt.
 

Für die Menschen, die in Haiti unter Bandenterror, Corona und Armut leiden.

Laut örtlichen Medienberichten hat sich das Klima der Unsicherheit in den vergangenen Wochen noch einmal verschärft; die Gangs kennten im Kampf um Einflussgebiete untereinander und gegen die Polizei keine Hemmschwelle mehr. Zuletzt sorgte die Entführung von Priestern und kirchlichen Mitarbeitern, die Ermordung eines Professors sowie eine brutale Vergewaltigung für Entsetzen.

Haiti scheint ein Synonym für "multiple Dauerkrise". Neben einem innenpolitischen Streit über die Dauer der Amtszeit von Moise und einer von ihm vorgeschlagenen Verfassungsreform leidet das Land unter einer notorischen politischen Instabilität: In den vergangenen 35 Jahren hatte Haiti 20 Regierungen. Bittere Armut liegt ohnehin immer über allem, nun auch noch eskalierende Kriminalität.

Haitis Kirche fordert indirekt Rücktritt des Präsidenten

Die Kirche in Haiti hatte angesichts der jüngsten Proteste und der Lage im Land zuletzt vor einer "sozialen Explosion" gewarnt. Die dortige Bischofskonferenz schrieb, die Gesellschaft lebe in extremer Not. Inmitten einer anhaltenden politischen Krise sei die Bevölkerung Mord, Straflosigkeit und Unsicherheit ausgesetzt. Es brauche mehr denn je Solidarität der Haitianer besonders mit den Leidenden - und einen sozialen und institutionellen Dialog.

Die Kirchenführung hatte den Präsidenten inmitten der Proteste indirekt zum Rücktritt aufgefordert. In einer Erklärung der Bischofskonferenz hieß es, "niemand stehe über Gesetz und Verfassung". Moise habe das Wahlgesetz in der Vergangenheit mehrmals angewandt und damit auch für sich akzeptiert, so die Bischöfe. Die ganze Welt gehe davon aus, dass Haiti ein Rechtsstaat sei.

KNA/sun

Adveniat, das Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, steht für kirchliches Engagement an den Rändern der Gesellschaft und an der Seite der Armen. Dazu arbeitet Adveniat entschieden in Kirche und Gesellschaft in Deutschland. Getragen wird das Werk von hunderttausenden Spenderinnen und Spendern – vor allem auch in der alljährlichen Weihnachtskollekte am 24. und 25. Dezember. Adveniat finanziert sich zu 95 Prozent aus Spenden. Die Hilfe wirkt: Im vergangenen Jahr konnten mehr als 2.000 Projekte mit rund 35 Millionen Euro gefördert werden, die genau dort ansetzen, wo die Hilfe am meisten benötigt wird: an der Basis, direkt bei den Armen.