Weltfrauentag: Mütter und Kinder stark machen - Adveniat-Projekt in Armenviertel von Mexiko

Im Norden Mexikos, direkt am Grenzzaun zu den USA, arbeiten die vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützten Hormigas, die „Ameisen“. Das von ehemaligen Ordensfrauen gegründete Hilfsprojekt in einem Armenviertel außerhalb von Ciudad Juárez wirkt in kleinen Schritten den Auswirkungen von Armut und Gewalt in den Familien entgegen. Ihr besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Stärkung von Frauen und Mädchen.
 

Alejandra Corona konnte der kleinen Alyssa mit einer Sprachtherapie helfen, die von den „Hormigas“ mit Unterstützung aus Deutschland angeboten wird. Fotos: Carolina Rosas Heimpel/Adveniat


Die Sonne färbt die Berge der Franklin Mountains orangerot. Das Viertel Anapra im äußersten Norden der Grenzmetropole Ciudad Juárez blickt auf die USA. Auf mexikanischer Seite sind die Häuser direkt an die Mauer herangebaut. Personaltransporte poltern die wenigen asfaltierten Straßen im Viertel hoch und entlassen Menschen in blauen Arbeitsuniformen. In Anapra arbeiten fast alle Bewohner in den Montagefabriken, den maquilas. Lange Arbeitswege, ermüdende Schichten und Hungerlöhne bestimmen das Leben der Familien.

„Und das spiegeln uns die Kinder wider“, so Elvia Villescas, Gründerin der Hormigas, die hier ein Therapie- und Schulzentrum betreiben. Zu ihnen werden Kinder geschickt, die als „auffällig“ oder „schwer erziehbar“ gelten. Doch die Hormigas wissen, dass diese meist nur auf Probleme in den Familien reagieren. Elvia Villescas und ihre Mitstreiterin Linabel Sarlat haben den Lehmbau mit Therapieräumen und einem großen Gruppenraum voller kleiner Schulbänke und gemütlicher Sitzecken vor 17 Jahren errichtet. Die ehemaligen Ordensschwestern folgten damit ihrem Traum: mit Montessoripägagogik und Gestaltherapie Kindern und Familien zu helfen.

Wie der kleinen Ailyin. In der Schule hatte sie Wutanfälle, kletterte unters Pult, zwickte Mitschüler und biss eine Lehrerin. Die Schule rief die Hormigas an. Doch diese sahen sich einem aufgeweckten Mädchen gegenüber, das freundlich auf ihre Interventionen reagierte. „Ailyin galt als agressiv“, erzählt Elvia Villesca. „Aber sie ist sehr intelligent und wird wütend, wenn sie in die Schranken gewiesen wird.“ Die Hormigas luden die Familie zur Therapie ein und erkannten, dass ein Trauerfall die Beziehungen durcheinander brachte. Das Baby von Ailyins älterer Schwester Alma war gestorben, und das beschäftigte das kleine Mädchen sehr. Währenddessen trugen die übrigen Familienangehörigen sie als „Babyersatz“ auf Händen, um den Verlust zu verdrängen.
 

Elvia Villescas, Gründerin der Hormigas, in ihrem Büro: In den Zeiten der Pandemie läuft auch in Mexiko Vieles via Videokonferenzen.

Las hormigas bedeutet übersetzt: die Ameisen. In dem gleichnamigen Zentrum wird Kindern und Familien mit Montessoripägagogik und Gestaltherapie geholfen.

Alyssa und ihre Mutter Diana sprechen mit Elvia Villescas von den Hormigas (links). Während der Vater in den USA als LKW-Fahrer arbeitet, kümmert sich Diana um Alyssa, die bei den Hormigas eine Sprachtherapie macht.


Elvia Villesca besucht die Familie. Nur Ailyin und ihre Mutter Teresa sind zuhause. Der Vater ist im Morgengrauen aufgebrochen, um auf dem Bau zu arbeiten, am Nachmittag geht er zur Schicht in die Fabrik und kommt spät abends wieder. Ailyins erwachsene Schwester und ihr Mann kommen gerade von der Morgenschicht zurück. Ihre Mama verbringt die Tage mit Ailyin und setzt dann am Wochenende Autolampen für einen US-amerikanischen Hersteller zusammen, wenn alle anderen zuhause sind.

Teresa erinnert sich, wie sie vor zwanzig Jahren mit ihrem Mann aus dem Süden Mexikos hierherzog, um an der Grenze Geld zu verdienen. „Wir kamen sonntags an, montags standen wir in der Fabrik.“ In dem bescheidenen Haushalt sieht man nichts von den vier Gehältern der Erwachsenen. Teresa entschuldigt sich, dass es nur drei Stühle und kein Sofa gibt. Die Schlafzimmer sind durch Holzwände getrennt. Ailyin zeigt Elvia Villescas ihren Schreibtisch für den digitalen Schulunterricht. Die Coronapandemie hat die Kinder aus dem Leben verbannt. Das Mädchen erzählt, wie sie die Schule und das Fußballspielen mit ihrer Schwester vermisse. „Doch das hat sich für die nächsten Monate sowieso erledigt“, sagt Alma fröhlich. Ailyin schmiegt sich an ihren Bauch. Ein neues Baby ist auf dem Weg.

Unterdessen hat die Pädagogin Alejandra Corona die mobile Schulaula der Hormigas vom Park­platz geholt. Der weiße Van bringt sicher vertäute Schulpulte, hölzerne Weltpuzzle und bunte Malstifte in angrenzende Viertel. Der überdimensionale Teddybär in der hinteren Ecke schaukelt aufgeregt mit dem Kopf. Alejandra Corona macht sich auf den Weg zu Alyssa, die sie per Zoom betreut, aber noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Alyssa hat vor Aufregung kaum geschlafen. Endlich wird sie Alejandra kennenlernen! Sie löchert ihre Mutter Diana, ob sie sie umarmen darf? – Pandemie hin oder her, die Umarmung muss sein, als Alejandra endlich vor dem Haus hält.

Alyssa erzählt fröhlich drauflos. Das kleine Mädchen war vor der Sprachtherapie, die sie bei den Hormigas absolviert hat, kaum zu verstehen. Mutter Diana musste Alyssas Worte dem Vater übersetzen, der als Fernfahrer in den USA lange Wochen außer Haus ist. Alyssa stehen Tränen in den Augen, wenn sie daran denkt, dass er gestern wieder losfahren musste. Obwohl Diana der Abschied auch schwergefallen ist, ist sie erleichtert, dass ihr Mann den gut bezahlten Job gefunden hat. „Würden wir beide noch in der maquila arbeiten, hätte ich kaum Zeit für Alyssa.“ Zeit, die sie auch für die weiten Wege nach Anapra zu den Hormigas gebraucht hat, damit Alyssa an der Sprachtherapie teilnehmen konnte.
 

Für die Unterstützung von Frauen und Mädchen in Lateinamerika.


In Anapra begleitet die neue Direktorin der Hormigas, Alejandra Esparza, die dienstälteste Mitarbeiterin der Organisation nach Hause. Paty kocht, putzt und packt seit nun schon zwölf Jahren mit an. Dass sie damals zu den Hormigas gefunden hat, habe ihr Leben verändert, sagt sie. „Ich war gerade mit meinen drei Töchtern nach Ciudad Juárez gezogen. Ich war Witwe und dann kam noch Cinthia zur Welt.“ Während Paty bei den Hormigas arbeitete, kam das drei Monate alte Baby in die hauseigene Kinderkrippe. „Sie ist eine wahre ‚Ameisentochter‘.“ Cinthia begann schon mit einem Jahr zu sprechen und mit drei Jahren zu schreiben. „Sie erstaunte uns alle.“

Während Cinthia rasante Fortschritte machte, redeten die Hormigas Paty ins Gewissen: Die kleine Familie könne nicht ewig in einem angemieteten Zimmer wohnen, sie bräuchte ein eigenes Haus. Eine fleißige Frau wie Paty hätte das bald abbezahlt. „Ohne moralische Unterstützung hätte ich mich das nie getraut!“ Paty lacht und zeigt ihr bescheidenes Eigenheim. Cinthia dient der Gang vom Wohnzimmer bis zum Hinterhof auf den hohen Absätzen der älteren Schwestern als imaginärer Laufsteg. Sie vermisst die Freundinnen und die anderen „Ameisenkinder“. Einen ganzen Schuhkarton voller Briefe hat sie von diesen während der Pandemie erhalten. Für das schüchterne Teenagermädchen mit den hüftlangen Haaren ein echter Schatz.

Auch ihre Schwestern gehen kaum aus dem Haus. Das Viertel ist von Gewalt geprägt; Morde und Entführungen sind keine Seltenheit. Elvia Villescas berichtet von den schwerwiegendsten Fällen. Vom einem kleinen Jungen, dessen Mutter vor seinen Augen erschossen wurde. Er ist bei den Hormigas in Therapie, wie auch seine Großmutter, die vorsichtig verlauten lässt, dass sie ahnt, wer die Mörder ihrer Tochter sind. „Das sind Fälle, da können wir uns nicht einmischen, um uns selbst und unsere Arbeit im Viertel nicht in Gefahr zu bringen.“ Auch wenn es schwerfällt, können die Hormigas in diesem Fall nur psychologische Unterstützung leisten. „Das Wichtigste ist, dass die Betroffenen selbst wieder auf die Beine kommen. Gerechtigkeit bleibt leider oftmals aus.“

Text: Kathrin Zeiske