„Arévalo muss die Korruption bekämpfen“
Kardinal Álvaro Ramazzini zum Wahlausgang in Guatemala

Er ist als Außenseiter im ersten Wahlgang um das Präsidentenamt in Guatemala angetreten und hat nun mit deutlichem Vorsprung die Stichwahl gegen Sandra Torres gewonnen. Bernardo Arévalo steht vor großen Herausforderung, wie der Bischof von Huehuetenango und langjährige Adveniat-Partner Kardinal Álvaro Leonel Ramazzini im Interview erläutert.

Porträt von Bischon Álvara Ramazzini

Der Bischof von Huehuetenango und langjährige Adveniat-Partner Kardinal Álvaro Leonel Ramazzini. Foto: CELAM; CC BY-NC 4.0;  https://bit.ly/3R6iqR5

Kardinal Ramazzini, der neue Präsident heißt Bernardo Arévalo. Überrascht Sie dieses Ergebnis?

Kardinal Álvaro Ramazzini: Dieses Ergebnis überrascht, da die bisherige Regierung im Wahlkampf sehr stark gewesen ist. Niemand hat mit diesem Ergebnis gerechnet. Ich glaube, dass der Wahlkampf von Arévalo effektiver war. Er suchte den direkten Kontakt mit den Menschen und das hat Spuren hinterlassen. Hintergrund ist die große Unzufriedenheit mit der jetzigen Regierung. Die Menschen haben eine Alternative gesucht.

Nach dieser Wahl werden 75 neue Mitglieder in den Kongress einziehen. Menschen mit neuen Ideen. Sie sind zwar weniger als die Hälfte der insgesamt 180 Abgeordneten, aber immerhin. 
Was hat sich zwischen dem ersten Wahlgang und der Stichwahl geändert, damit Arévalo diesen Sieg erlangen konnte?

Ramazzini: Im ersten Wahlgang gab es 22 Kandidaten, die Stimmen haben sich dadurch sehr verteilt. Dass sich Arévalo durchsetzen konnte, mag auch daran liegen, dass die vielen Wahlkampfversprechen die Menschen ermüdet haben, und selbst Geschenke wie Nahrung und Geld keine Wirkung mehr gezeigt haben. Bei der Stichwahl blieben nur noch Torres und Arévalo. Das hat Klarheit geschaffen. 

Sie haben eindringlich mit Ihrem Zusammenschluss „Convergencia nacional de Resistencia“ davor gewarnt, dass der ‚Pakt der Korrupten‘ einen Machtwechsel verhindern würde. Wird diese Gruppe den neuen Präsidenten akzeptieren?

Ramazzini: Bernardo Arévalo muss sein Versprechen halten, die Korruption zu bekämpfen. Das wird eine riesige Aufgabe sein. Denn die Korruption ist tief verwurzelt. Wie soll man das Land davon reinigen? Dafür braucht es eine gefestigte Haltung. Es wird viel davon abhängen, wie viele Unterstützer Arévalo für dieses Vorhaben gewinnen kann – insbesondere unter den Abgeordneten und den Bürgermeistern. Denn die Bürgermeister haben eine große Macht in den Städten. 
Die beiden Parteien VAMOS und UNE stellen zusammen die Mehrheit der Abgeordneten. Präsident Arévalo und seine Partei Semilla brauchen eine Strategie, um ein öffentliches Gewissen aufzubauen. Denn in diesem Land rechtfertigen sich Abgeordnete bislang nicht für ihr Handeln. Sie tun und lassen was sie wollen. Die Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen und den Abgeordneten und den lokalen Behörden zeigen, dass sie hinter den Entscheidungen der gewählten Regierung stehen. Es wird sicherlich noch dauern, bis diese Haltung unter den Menschen gewachsen ist.

Flucht trennt. Hilfe verbindet Adveniat Weihnachtsaktion 2023

Einer von fünf Migrantinnen und Migranten weltweit kommt aus Lateinamerika. Verfolgung, Gewalt und Hunger zwingen Menschen ihre Heimat zu verlassen. Schwerpunktländer sind Kolumbien, Panama und Guatemala, anhand welcher die unterschiedlichen Aspekte von Flüchtlingshilfe dargestellt werden. Die Eröffnung der bundesweiten Adveniat-Weihnachtsaktion findet am 1. Advent, dem 3. Dezember 2023, im Bistum Erfurt statt.

Es wird also eine große Herausforderung für den neuen Präsidenten sein, sich aus der Gefangenschaft der Eliten zu befreien…

Ramazzini: Bevor ich darauf eingehe, ein wichtiges Detail: Arévalo hat ein sehr gutes Verhältnis zu Dionisio Gutiérrez, der Teil dieser ökonomischen Elite ist. Dennoch bin ich überzeugt, dass die echte Unterstützung für diesen Präsidenten vonseiten der Bevölkerung kommen muss. Hier müssen auch die sozialen Einrichtungen und Organisationen ihren Teil beitragen.
Die Herausforderung ist also, alle Bereiche, die Ökonomie, die Abgeordneten, die Hilfsorganisationen und die Behörden zu vereinen, um gemeinsam Lösungen für eine verarmte Nation mit einer wachsenden Zahl an Migranten zu finden. Es gibt viele Menschen, die den Wunsch nach Veränderung haben. Das ist auch ein Grund für den Wahlsieg von Arévalo. 

Die Hälfte der Kinder in Guatemala leidet an Unterernährung und die Zahl der Armen steigt. Was bedeutet die Wahl von Bernardo Arévalo für die Armen?

Ramazzini: Tatsächlich wurde die Bevölkerung immer ärmer und die noch amtierende Regierung hat keine Gegenmaßnahmen getroffen. Die chronische Unterernährung der Kinder in diesem Land konnte nicht gestoppt werden. Die Armut wird sich nur verringern, wenn die dafür verantwortliche Korruption bekämpft wird. Denn die Zuwendungen des Staates kommen nicht dort an, wo sie ankommen sollten. Stattdessen bereichern sich die Eliten. Das wird hoffentlich von der neuen Regierung beendet.
Dieses Land lebt maßgeblich von dem Geld, das ausgewanderte Menschen aus dem Ausland nach Guatemala schicken. Es handelt sich um viele Millionen Dollar. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie dieses Land ohne dieses Geld aussehen würde. Hinzu kommen die strukturellen Probleme: Wir sind nicht in der Lage so viel Nahrung zu produzieren, dass wir uns davon ernähren könnten. Wir exportieren Zucker, Kaffee und Bananen, haben aber keine Nahrung für unsere Bevölkerung. Wir werden sehen, wie die Regierung jetzt damit umgeht. Da sie über keine Mehrheit im Kongress verfügt, wird die Aufstellung des Haushaltes zur Machtfrage. Es wird die Regierung also Kraft kosten.

Viele Kindern in Guatemala sind unterernährt. Die Familien sind auf Unterstützung angewiesen.

Die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Guatemala ist in den letzten Jahren gestiegen.

Migranten auf ihrem Weg in die USA stranden oftmals in Guatemala. Ihnen fehlt meistens jegliche Perspektive.

Sie haben nach der ersten Wahl ihre Befürchtung geäußert, dass es eventuell einen Militärputsch geben könnte. Meinen Sie, dass das Militär den Präsidenten und die neue Regierung akzeptieren wird?

Ramazzini: Ich erwarte, dass das Militär entsprechend der Verfassung und seiner eigenen Ansprüche den Präsidenten akzeptieren wird. Es wird bei einigen ranghohen Militärs einen Meinungswechsel geben. Ausschlaggebend wird das Auftreten Arévalos und der Vizepräsidentin gegenüber den Militärs sein. Der Präsident ist der Oberbefehlshaber des Militärs. Nichtsdestotrotz wird er es schwer haben: Die reiche Elite, die keine Veränderung will, der Kongress, in der er keine Mehrheit hat und das Militär. Aber ich glaube, mit der gesellschaftlichen Unterstützung kann man etwas erreichen. Aber es wird ein sehr langer Prozess werden.

Sie sehen also aktuell keine unmittelbare Gefahr eines Putsches?

Ramazzini: Nein. Ich denke, dass es zurzeit keine Gefahr gibt. Wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl die EU sowie die USA ein Auge auf uns haben. Es gibt noch viele Menschen, die mit dem Wahlausgang nicht einverstanden sind und ökonomische und politische Macht haben. Deswegen hoffen wir, dass die internationale Staatengemeinschaft diesen begonnenen Prozess mit ihren internationalen Organen begleitet. Wichtig ist auch weiterhin die Unterstützung von Organisationen wie dem Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Die Haltung und die Hilfe leisten einen großen Beitrag in diesem Prozess.