Gestrandet in der Corona-Krise:
Dramatische Lage in Lateinamerikas Migrantenlagern

Während Lateinamerikas Öffentlichkeit gebannt und angsterfüllt auf steigende Infektionszahlen und Todesstatistiken starrt, braut sich abseits der Pressekonferenzen und Scheinwerfer ein explosiver Cocktail zusammen. 22 Länder haben seit Beginn der Quarantänen im März ihre Grenzen geschlossen. Damit wurden Fluchtrouten in die USA drastisch unterbrochen und die Grenzen militarisiert. In Mittelamerika, eine obligatorische Durchgangsstation auf dem Weg nach Norden, zirkulieren seit Mitte März nur noch Waren frei. Tausende Migranten sind deshalb gestrandet – im Dschungel des Darién in Panama ebenso wie im Süden von Honduras.
 

Wegen Corona sind viele Grenzen dicht. In Lateinamerika harren deshalb tausende Flüchtlinge in improvisierten Zeltunterkünften aus. Foto: Sandra Weiss


Je länger die Quarantäne dauert, umso explosiver wird die Lage und umso ungeduldiger die Migranten. Die Konditionen in ihren Lagern sind prekär. Sie sind in Massenunterkünften zusammengepfercht, mit viel zu wenig sanitären Einrichtungen. Oft sind weder Sauerstoffmasken noch Beatmungsgeräte in erreichbarer Nähe. Der Rest der Bevölkerung betrachtet die Migranten argwöhnisch, denn sie stehen unter Generalverdacht, Überträger des Virus zu sein. Offizielle Sozialprogramme schliessen Migranten meistens von der Teilhabe aus. Und wegen der geschlossenen Behörden haben sie auch keine Möglichkeit, ihren Migrantenstatus legal anerkennen zu lassen.

Mexiko hat Flüchtlingsunterkünfte evakuiert und Menschen mit Bussen an Grenze zurück geschickt

Während die Flüchtlinge auf ihre Einreise warten, breitet sich das Virus bereits in einigen Lagern aus. Foto: Sandra Weiss

Mexiko beispielsweise hat aus Angst vor Infektionsherden seine staatlichen Flüchtlingsunterkünfte evakuiert und die Insassen unter Protesten von Menschenrechtsorganisationen in Busse verfrachtet und zum Grenzübergang nach Guatemala zurückgeschickt. Im eisig kalten australen Winter von Chile campierten haitianische Flüchtlinge tagelang vor dem Präsidentenpalast, um auf ihre missliche Lage aufmerksam zu machen. Die Regierung bot ihnen schliesslich einen gratis Rückflug in die Heimat an - sofern sie auf ihren Aufenthaltsstatus in Chile verzichteten und sich verpflichteten, fünf Jahre keinen Fuss mehr nach Chile zu setzen.

In Honduras marschierten ca. hundert Flüchtlinge vor kurzem einfach zu Fuss in der Stadt Choluteca los in Richtung Grenze und wurden unterwegs von der Polizei abgefangen. Besonders prekär ist die Lage im abgelegenen Dschungel des Darién, wo fast 2000 Flüchtlinge aus der ganzen Welt festsitzen. Einige steckten kürzlich ihre Unterkunft in Brand, nachdem die Hälfte der Insassen positiv getestet worden war. Zwischen Costa Rica und Nicaragua versuchen viele über die grüne Grenze weiterzukommen; in Guatemala wurden dieser Tage versteckt in einem LKW 15 kubanische Flüchtlinge entdeckt.
 

für die Menschen in Lateinamerika in der Corona-Krise


An Grenze zwischen USA und Mexiko sind 60.000 Flüchtlinge gestrandet

Ein Brennpunkt ist die Grenze zwischen den USA und Mexiko, wo derzeit nach einer Erhebung der Universität Houston zufolge 60.000 Menschen auf mexikanischer Seite in Zeltlagern ausharren, um ihr Asylgesuch in den USA vortragen zu können – doch die Anhörungen sind eingestellt, die Grenzübergänge für den Personenverkehr geschlossen. „Die Grenzregion ist ein juristisches Niemandsland in äusserst prekären Umständen“, so die Universität.

Dramatisch ist die Lage auch für venezolanische Flüchtlinge in Südamerika. Sie wollen nicht weiter in die USA, sondern zurück in ihre Heimat, weil sie durch den lockdown keine Arbeit mehr haben, keine Miete mehr zahlen können und auf der Strasse gelandet sind und hoffen, zuhause in ihren alten Häusern oder bei Verwandten unterzukommen. „Viele gelangen zu Fuss an die Grenze, weil es keinen öffentlichen Transport mehr gibt“, schildert Bischof Victor Manuel Ochoa telefonisch aus der Grenzstadt Cúcuta.
 

Lateinamerika hat sich zum Epizentrum der Corona-Pandemie entwickelt. Während in Europa die Infektionszahlen zurückgehen, steigen sie in Lateinamerika rasant an. Gemeinsam mit seinen Projektpartnern hat Adveniat bereits knapp sieben Millionen Euro als Nothilfe geleistet, um die Menschen medizinisch, sowie mit Lebensmittel- und Hygienekits zu versorgen. Mehr dazu


Venezuela lässt Rückkehrer-Flüchtlinge kaum noch ins Land

75.000 haben sich offiziellen kolumbianischen Zahlen zufolge seit Beginn der Coronakrise auf den Rückweg gemacht. Doch Venezuela will sie nicht zurückhaben. Das Land steckt selbst in einer Wirtschaftskrise, die Rückkehrer werden von manchen Politikern als „biologische Waffen“ stigmatisiert. Die Grenze ist dicht, nur knapp tausend pro Woche dürfen durch einen humanitären Korridor an insgesamt drei Grenzübergängen zurück in die Heimat. „Wir steuern auf eine Krise in der Krise zu“, erzählt Ochoa per Telefon. Die Infektionsketten nähmen gerade erst an Fahrt auf in der Grenzregion.

In Cúcuta sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR derzeit 1.200 venezolanische Flüchtlinge gestrandet. „Wir haben auf einer Grenzbrücke ein Zeltlager errichtet“, erzählt UNHCR-Repräsentant Jozef Merkx per Telefon. Dort gibt es Duschen, Trinkwasser, Ärzte und Zelte im gebührenden Abstand. Neuankömmlinge werden ärztlich untersucht, wer Symptome hat, in ein Feldlazarett in Isolation geschickt Doch das Lager bietet gerade einmal Platz für 400-500 Flüchtlinge. Die übrigen Flüchtlinge schlafen auf Parkbänken oder auf öffentlichen Plätzen. Die Diözese verteilt 1500 warme Mahlzeiten sowie Hygienekits und Medikamente pro Tag an den Brennpunkten von Cúcuta, u.a. dank der Unterstützung der Spender des katholischen Hilfswerks Adveniat.

Text: Sandra Weiss