Ist die deutsche Kirche reich, weil so viele arm sind?

Interview zum Welttag der Armen mit dem in Brasilien lebenden Theologen Paulo Suess

Mit dem Welttag der Armen will Papst Franziskus „die Gläubigen anspornen, damit sie der Wegwerfkultur und der Kultur des Überflusses eine wahre Kultur der Begegnung entgegenstellen“. Die beiden Hilfswerke Adveniat und Misereor haben auf den verschiedenen Kontinenten Menschen interviewt, die sich mit ihrem Leben für die Armen einsetzen. Papst Franziskus holt uns aus der Komfortzone des Lebens auf den Boden des Alltags, ist der in Brasilien lebende Theologe Paulo Suess überzeugt.

Theologe Paulo Suess lebt in São Paulo, Brasilien. Foto: Harald Oppitz/Adveniat

Warum braucht es einen Welttag der Armen?

Paulo Suess:
Damit wir, die wir in der Zone des Komforts leben, zurückgerufen werden von unserem distanzierten Fernsehblick auf den Boden des Alltags. Unsere statistischen Kenntnisse über die Armut in der Welt dringen oft nicht bis zu unserem Herzen und unseren Händen vor. Brasilien ist ein Land sozialer Ungerechtigkeit: Weniger als vier Prozent der Bevölkerung verdienen monatlich mehr als 4.535 Euro, während mehr als die Hälfte weniger als 604 Euro zur Verfügung hat. Armut ist Folge fehlender Solidarität und privilegierter „Aneignung der Güter durch einige wenige“, wie Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si‘ anmerkt.

Es wird immer wieder kritisiert, dass die deutsche Kirche eine materiell reiche Kirche ist. Nur so können aber doch die ungezählten Projekte unterstützt werden, die armen Menschen in der ganzen Welt helfen?

Suess:
Diese Frage stellt die Wahrheit auf den Kopf, weil sie das soziale Gewissen beruhigt und die Kirche ungestört materiell reich sein lässt, eben um armen Menschen in der Welt helfen zu können. Man könnte aber auch sagen: Die deutsche Kirche ist materiell reich, weil es in anderen Teilen der Welt so viele arme Menschen gibt. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern um den permanenten Imperativ zum Bau geschwisterlicher Weltverhältnisse.

Was kann die Kirche von den Armen lernen?

Suess:
Zunächst sind die Armen nicht abrufbar als Beispiele für individuelles Wohlverhalten. Jesus hat die Armen und Geringsten nicht selig gepriesen, weil sie „heilig“ oder „unschuldig“ waren, sondern weil der Anspruch auf Wahrheit damit verbunden ist, dem Leiden, der Ungleichheit, der Ausbeutung und der Not eine prophetische Stimme zu geben. Die prophetische Stimme, die Ungleichheit wahrnimmt und denunziert, ruft dazu auf, die Welt und das eigene Leben in Ordnung zu bringen. Ohne die materielle Armut zu verklären, können wir doch sagen, dass wir von den Armen Freude an den einfachen Dingen des Lebens, die Bereitschaft zum Teilen und den Mut zum Einsatz für das Leben aller lernen können.

Papst Franziskus sieht die Armut in den Gesichtern, „die gezeichnet sind von Schmerz, Ausgrenzung, Missbrauch, Gewalt, Folter, Gefängnis, von Krieg, vom Entzug von Freiheit und Würde, fehlenden Bildungschancen und Analphabetismus, Gesundheitsnotlagen und Arbeitslosigkeit, Menschenhandel, Sklaverei, Exil, Elend und erzwungener Migration". Wie müssen sich Christinnen und Christen angesichts eines solch umfassenden Begriffs von Armut verhalten?

Suess:
Der Welttag der Armen erinnert an eine den Charakter der Kirche prägende und sehr weit gefasste Seinsstruktur, die das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ („Licht der Völker“) so in Worte gefasst hat: „Wie aber Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollbrachte, so wird die Kirche gerufen, denselben Weg einzuschlagen, um den Menschen die Früchte des Heiles mitzuteilen“ (8). Damit der Christkönigssonntag noch authentischer gefeiert werden kann, wird ihm von nun an immer der Welttag der Armen vorangestellt sein. So wird daran erinnert, dass Christus Jesus, „obwohl er in Gottesgestalt war, [...] sich selbst entäußert hat, indem er Knechtsgestalt annahm“, wie es im Philipperbrief heißt (2,6), und dass er unseretwegen „arm geworden ist, obwohl er reich war“ (LG 8). Dem sehr umfassenden Armutsbegriff von Papst Franziskus werden wir nur gerecht, wenn wir den Ruf zur Nachfolge neu ausbuchstabieren, wenn wir den in unserer Nähe gekreuzigten Menschen hier und heute versprechen, uns zu bekehren, und mit ihnen ein Bündnis eingehen, bei dem es um die Veränderung ungerechter Strukturen geht.

In seiner Botschaft fordert der Papst nicht nur wohltätiges Verhalten gegenüber den Armen, sondern „eine wirkliche Begegnung mit den Armen und eine Haltung des Teilens". Wie kann das gelingen?

Suess:
Es wird erzählt, der heilige Franziskus habe sich durch die Begegnung mit den Aussätzigen bekehrt. Auch Dom Helder Camara aus Brasilien und Erzbischof Oscar Romero aus El Salvador haben ähnliche Biographien der Bekehrung. Der Kampf um das Leben der Armen ist ein Kampf um die Wahrheit des Glaubens. Auch auf uns wartet täglich die Bekehrung durch die Begegnung mit den Armen. Die Option für die Armen ist immer auch eine Bekehrung bei den Armen und durch die Armen. Eine geschwisterliche Kirche wird eine eucharistische Kirche sein, in der das Brot gebrochen und die Güter verteilt werden. Gratuität ist der wirksame Protest gegen die Abwicklung menschlicher Verhältnisse nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip.

Erhält die Befreiungstheologie mit dem Welttag der Armen erstmals ihren „Segen" aus Rom?

Suess:
Die Option für die Armen ist kein Monopol der Befreiungstheologie. Aber sie hat die Armen neu ins Bewusstsein der Weltkirche gehoben und mit dem Martyrium vieler Glaubenszeugen bewahrheitet. Papst Franziskus hat viele Zeichen gesetzt, wie wichtig ihm die Option für und mit den Armen ist. Als wir einen seiner ehemaligen theologischen Lehrer fragten, ob der Einsatz von Papst Franziskus biographisch vom Elternhaus her oder durch seine Zugehörigkeit zum Jesuitenorden zu erklären sei, da sagte er nach längerem Nachdenken: „Nein, das ist in dieser Ausprägung nicht in seiner Biographie vorgezeichent. Das kommt vom Heiligen Geist.“

Das Interview führte Carolin Kronenburg.