Weltweite Solidarität wider globalisierte Wirtschaft

Interview zum Welttag der Armen mit Pater Michael Heinz und Pirmin Spiegel

Am 19. November 2017 findet erstmals der von Papst Franziskus ausgerufene „Welttag der Armen“ statt. Die Hauptgeschäftsführer der katholischen Hilfswerke Adveniat und Misereor fordern aus diesem Anlass, der globalisierten Wirtschaft eine weltweite Solidarität entgegenzustellen. Pater Michael Heinz und Pirmin Spiegel sind davon überzeugt, dass Armut kein Schicksal ist und vermeidbar wäre. Im Interview sprechen sie über die Notwendigkeit der Armutsbekämpfung aus christlicher Überzeugung heraus.

Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer Misereor, und Pater Michael Heinz, Hauptgeschäftsführer Adveniat, setzen sich gemeinsam für weltweite Solidarität ein.

Herr Spiegel, Sie haben vielfach statt von den Armen von den armgemachten Menschen dieser Erde gesprochen. Warum ist Ihnen dieser Unterschied so wichtig?

Pirmin Spiegel: Weil ich deutlich machen will, dass Armut kein Schicksal ist und vermeidbar wäre, wenn wir den unerhörten Schrei der Betroffenen wirklich hören und die inakzeptable Ungleichheit auf der Welt entschlossen bekämpfen würden. Vor wenigen Wochen bin ich in Paraguay gewesen und erlebte dort mit, wie Ausgrenzung und Armut erzeugt werden durch eine bestimmte Art des Wirtschaftens und die industrielle Erzeugung für den Export stark im Vordergrund steht. Menschen werden dabei überflüssig, und die Menschenwürde derjenigen, die einer solchen Ökonomie im Wege stehen, spielt dann kaum noch eine Rolle. Das Schlimme dabei ist, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt.

Pater Heinz, Papst Franziskus hat zum Welttag der Armen betont, dass diese nicht einfach als „Empfänger eines wohltätigen Dienstes“ betrachtet werden dürfen. Aber wie lässt sich seine Forderung nach „einer wirklichen Begegnung mit den Armen“ umsetzen?

Pater Michael Heinz: Hilfe darf nicht einfach zur Gewissensberuhigung benutzt werden. Gerade als Solidaritätsaktion sehen wir unsere Aufgabe darin, den Armen zuzuhören, Begegnungen über Grenzen hinweg zu ermöglichen und gemeinsam eine echte Kultur des Teilens zu leben. Deshalb denken wir uns auch keine Projekte aus, mit denen wir dann die Menschen „beglücken“. Es sind unsere lateinamerikanischen Partner, die eigenverantwortlich Initiativen entwickeln. Denn sie wissen am besten, wie Menschen befähigt werden, ihre Zukunft, ihr Leben in Würde zu gestalten.

Die UN haben vor zwei Jahren in ihren Nachhaltigkeitszielen angekündigt, dass die Staaten der Welt die Armut generell beseitigen wollen. Sind wir dabei auf einem guten Weg?

Spiegel: Die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele, das Klimaabkommen von Paris – und gerade Laudato si` – sind Mutmacher, die eine Ahnung einer anderen Entwicklungsidee geben. Sie stellen Übereinkünfte mit Signalwirkung dar: einen Konsens der Staatengemeinschaft, dass wir die erste Generation sein wollen, die die extreme Armut beendet, und die letzte Generation, die vom Klimawandel bedroht ist. Sie geben uns keinen Masterplan an die Hand, wie wir einen sozial-ökologischen Wandel hinbekommen. Aber sie sind ein Kompass, ein Rahmen für die große Transformation, trotz der Spannungen, die in den Zielen aufscheinen. Nach meiner Wahrnehmung hat die Festlegung auf das Ziel, Hunger und Armut vollständig zu beseitigen, noch zu keinem größeren Umdenken geführt.

Als arm gelten vor allem auch die ursprünglichen Völker Lateinamerikas. Der Hunger nach Rohstoffen und billigen Agrarprodukten hat zur Folge, dass sie vertrieben, gesellschaftlich und politisch ausgeschlossen und ermordet werden. Steht das Ende der indigenen Lebenswelt bevor?

Pater Heinz: Das wäre eine Katastrophe. Papst Franziskus fordert eine andere Wirtschaft, die sich nicht am Gewinn, sondern am Menschen orientiert. Wir könnten von den indigenen Völkern lernen, im Einklang mit der Umwelt einen anderen Stil des Wirtschaftens und Lebens zu entwickeln. Unserer Kultur des „Immer-mehr“ stellen sie eine des „Guten-Lebens-für-Alle“ entgegen. Deshalb sind wir auch Teil des kirchlichen panamazonischen Netzwerks Repam. Mit den indigenen Völkern des Amazonasgebiets wollen wir einen nachhaltigen Schutz dieser Lunge der Welt erreichen. Sie sind mit ihrer Art zu leben die wahren Umweltschützer.

Sie haben bei Ihrem Amtsantritt gesagt, die sogenannten „Armen“ seien Träger einer anderen notwendigen Welt. Was heißt das konkret?

Spiegel: Dass Menschen auch in prekärer persönlicher und sozialer Situation in der Lage sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, wenn Teilhabe und Teilnahme möglich sind. Armgemachte entwickeln Werte, ein Bewusstsein dafür, was es braucht, um einfach zu leben. Arme Menschen haben Kreativität in der Suche nach Lösungen. Sie wissen, worauf es ankommt – Zusammenhalt, Auskommen mit Wenigem, Improvisieren. Sie könnten mit dieser Lebenshaltung einen wichtigen Beitrag zu einer größeren Gerechtigkeit auf der Erde leisten.

Wir erleben angesichts von Digitalisierung und fortschreitender Globalisierung einen rasanten Transformationsprozess – weltweit. Wie reagiert die Kirche darauf?

Pater Heinz: Wir leben in der „Einen Welt“ extremer Ungleichheit. Der globalisierten Wirtschaft, deren Ausbeutung in jeder Hinsicht keine Grenzen kennt, müssen wir als Kirche eine weltweite Solidarität entgegenstellen. Gemeinsam mit unseren Partnern in Lateinamerika setzen wir uns zum Beispiel für faire Arbeitsbedingungen und menschenwürdige Verhältnisse ein. Jugendliche brauchen Bildungschancen, um ihr Leben gestalten zu können, Arbeiter müssen von sklavenähnlichen Bedingungen befreit werden.

Das Interview führten Ralph Allgaier und Stephan Neumann.