„Nicaragua hofft auf ein Wunder“
Adveniat-Partner Pfarrer Román Calderón im Interview

Die Menschen protestieren gegen die anhaltenden Repressalien durch die Regierung von Präsident Daniel Ortega. Foto: Klaus Ehringfeld/Adveniat.

Masaya, rund 30 Kilometer der Hauptstadt Managua entfernt, ist die am stärksten betroffene Stadt während der bewaffneten Auseinandersetzungen in Nicaragua. Dort stehen junge Protestierende auf der einen sowie Polizei und Paramilitärs im Dienst von Präsident Daniel Ortega auf der anderen Seite. In Masaya kamen zwischen Mitte April und Mitte Juli mehr als 30 Menschen ums Leben. Im Zentrum der Gefechte stand die kleine Kirche San Miguel von Pfarrer Edwin Heriberto Román Calderón, strategisch gelegen zwischen Krankenhaus und einem kleinen Platz. „Es war wie im Krieg“, sagt der 58-Jährige im Gespräch mit Adveniat. Pfarrer Edwin hat sich in ganz Nicaragua und weit darüber hinaus einen Namen gemacht, weil er seine Kirche und das Pfarrhaus in einen Zufluchtsort verwandelt hatte, in dem Freund und Feind Unterschlupf fanden. Schließlich fließt in seinen Adern Heldenblut. Die Großmutter des Diözesanpriesters war die Schwester des nicaraguanischen Freiheits- und Nationalhelden Augusto César Sandino, der Anfang des vergangenen Jahrhunderts gegen die US-Invasoren in Nicaragua kämpfte.

Adveniat-Partner Pfarrer Román Calderón
Edwin Heriberto Román Calderón nach dem Gottesdienst in der Gemeinde San Miguel in Masaya. Foto: Klaus Ehringfeld/Adveniat

Padre Edwin, erstmals seit drei Wochen haben Sie heute wieder eine Messe feiern können mit ihrer Gemeinde ...

Román Calderón: Ja, die vergangenen beiden Sonntage haben die Paramilitärs mich nicht zu meiner Kirche durchgelassen. Aus Sicherheitsgründen war ich sechs Wochen in Managua untergetaucht. Ich bekam Drohungen. In Nicaragua werden Geistliche heute als Feinde betrachtet.

Wie haben Sie die vergangenen traurigen Monate erlebt?  

Román Calderón: Ich bin seit 28 Jahren Pfarrer, aber etwas Vergleichbares habe ich noch nie erlebt. Es wurde geschossen, Brandsätze flogen. Meine Kirche war Rückzugs- und Fluchtpunkt, Krankenstation und Leichenschauhaus. Menschen brachten Verletzte und Todgeweihte hierher. Ich erinnere mich noch an den Abend des 10. Mai, als alles anfing. Ich war gerade dabei, ins Bett zu gehen, als ich die ersten Schüsse, Bomben und Schreie hörte. Und dann rief ein Junge schon: ‚Padre Edwin, machen sie die Tür auf!‘ Die ganze Nacht über verteilten wir Brot an die jungen Protestierer, stellten ihnen Wasser zur Verfügung, damit sie sich das Tränengas aus den Augen waschen konnten. Die Schießerei dauerte bis zum Morgengrauen. Am nächsten Tag wurden die ersten Barrikaden errichtet. Ich denke, Gott hat mir die Aufgabe zugewiesen, hier zu helfen.

Haben Sie jemals gedacht, dass die sandinistische, ehemals linke Regierung so gegen ihr eigenes Volk vorgehen könnte?  

Román Calderón: Nein, zumal es ein ungleicher Kampf ist. Es ist nicht wie 1979, als Nicaragua gegen den Diktator Anastasio Somoza kämpfte. Das hier ist kein bewaffneter Aufstand wie damals. Das hier sind Jungs mit Schleudern, Steinen und manchmal hausgemachten Waffen gegen aufgerüstete Spezialeinheiten, Polizisten und Paramilitärs, die ohne Rücksicht auf Verluste schießen.

Warum sind die Menschen so wütend auf die Regierung? 

Román Calderón: Es sind die vielen Jahre des Machtmissbrauchs, die gleichgeschalteten Institutionen, die riesige Korruption, die Einschüchterung von Regierungsgegnern. Zudem gibt es keine Arbeit für die Menschen, auch fehlt es an Studienplätzen. 

Gab es in all dem Horror auch etwas, das Sie ermutigt hat?

Román Calderón: Die große Solidarität der Menschen. Wir bekamen Nahrungsmittel, Wasser, Matratzen und sogar Särge geschenkt. Das schönste Erlebnis war zu sehen, dass zwei evangelische Pastoren aus Tipitapa auf dem Moped zu uns kamen und halfen. Jeder hatte zwei Säcke mit Essen und Medikamenten dabei. 

Wie geht es denn jetzt weiter? Die Barrikaden sind abgebaut oder geräumt. Es liegt eine gespannte Ruhe über der Stadt und dem Land.

Román Calderón: Weder Masaya noch Nicaragua sind besiegt. Es ist ein Rückzug, eine Phase der Neuorientierung des Kampfes. Es werden neue Strategien überlegt. Derweil geht aber die Repression weiter. Ganze Familien werden weggesperrt, Häuser niedergebrannt. Aber das Volk wird dem Präsidenten nicht erlauben, noch drei Jahre weiter zu regieren. Ganz Nicaragua hofft auf ein Wunder. Dass Daniel Ortega bald geht. 

Das Interview führte Klaus Ehringfeld.

Adveniat, das Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, steht für kirchliches Engagement an den Rändern der Gesellschaft und an der Seite der Armen. Dazu arbeitet Adveniat entschieden in Kirche und Gesellschaft in Deutschland. Getragen wird das Werk von hunderttausenden Spenderinnen und Spendern vor allem auch in der alljährlichen Weihnachtskollekte am 24. und 25. Dezember. Adveniat finanziert sich zu 95 Prozent aus Spenden. Die Hilfe wirkt: Im vergangenen Jahr konnten rund 2.200 Projekte gefördert werden, die mit 38 Millionen Euro genau dort ansetzen, wo die Hilfe am meisten benötigt wird: an der Basis, direkt bei den Armen.