"Sie rotten uns aus"
Indigene in der Corona-Krise

Das Virus hat die Tiefen Amazoniens erreicht. 420 Ethnien in acht Ländern sind bedroht, 445 Indigene allein in Brasilien gestorben. Mit ihnen gehen Sprachen und uraltes Wissen verloren. Es wackelt die letzte Bastion zum Schutz des Regenwaldes, berichtet die Lateinamerika-Korrespondentin Sandra Weiss.

Eigentlich wollte Kazike Raoni Metuktire dieser Tage in die Hauptstadt Brasilia reisen, um die staatliche Indigenen-Schutzbehörde Funai zur Rede zu stellen. Die unter Kontrolle des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro stehende Behörde hat eingewilligt, die geplante Einrichtung von 237 Schutzgebieten zu stoppen. Diese würde damit frei für Siedler, Goldgräber und Holzfäller. Aus Raonis Reise wurde jedoch wegen des Coronavirus nichts. Jetzt erklärte der 90-jährige Anführer der Kaiapó per Videobotschaft von seinem Dorf in den Tiefen des Amazonas im Bundesstaat Mato Grosso aus: „Bolsonaro nutzt die Pandemie, um uns auszurotten. In ganz Amazonien sterben Indigene an dieser neuen Krankheit, aber nie wird ein kranker Indigener in ein Hospital nach Brasilia gebracht, dort auskuriert und gesund wieder in sein Dorf zurückgeschickt.“

Die Karte des kirchlichen Amazonas-Netzwerks Repam, dem auch das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat seit der Gründung angehört, zeigt, welche indigennen Gemeinschaften bereits von Corona-Infektionen betroffen sind. Quelle: Amazonas-Netzwerk Repam

In Amazonien hinterlässt das Virus eine tragische Spur: Von Leticia in Kolumbien über Manaus in Brasilien bis Iquitos in Peru kollabieren die Krankenhäuser. Laut der Indigenen-Organisation APIB sind allein in Brasilien 12.048 Indigene aus 122 Völkern erkrankt. 445 von ihnen sind gestorben. Menschenrechtsorganisationen warnen vor einem Genozid.

"Die Baumfäller haben keinen Lockdown"

Auf die direkten Folgen der Pandemie reagiert das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat mit dem kirchlichen Amazonas-Netzwerk Repam (Red Eclesial PanAmazonica) mit seiner Corona-Nothilfe für die Menschen, die unter Hunger leiden, und denen Hygieneartikel zum eigenen Schutz fehlen. Da die Corona-Krise die „normalen“ Probleme aber nur verschärft, ist es geboten, die langfristigen Projekte zum Schutz der indigenen Völker weiter voranzutreiben. Denn „die Baumfäller und die Ausbeuter der Bodenschätze haben keinen Lockdown, sie arbeiten auf Hochtouren“, wie der Leiter der Projektabteilung bei Adveniat, Thomas Wieland, im Interview betont. Ein Ergebnis der seit Jahren von Adveniat unterstützten Repam-Menschenrechtsschulen ist es beispielsweise, dass Indigene gegen den Druck der Regierungen und der Konzerne das gezielte Eindringen von Goldgräbern und Holzfällern öffentlich machen. Sie kennen ihre Rechte und kämpfen öffentlich dafür. 

für die Menschen in Lateinamerika in der Corona-Krise

Die Bedrohung der Indigene und ihrer Kulturen ist existenziell. Die brasilianische Archäologin Bruna Rocha befürchtet, dass das über Generationen angesammelte Wissen versiegt, das in indigenen Völkern nicht über Bücher weitergegeben wird, sondern mündlich. Das Vordringen der Weißen und der westlichen Lebensweise hat die Jugend von ihren Wurzeln entfremdet. Sterben nun die letzten weisen Männer und Frauen, fürchtet Rocha, wird von der indigenen Kultur nur noch wenig übrigbleiben. „Die Invasion indigener Gebiete wird seit 500 Jahren von Epidemien flankiert. Aber heute schreiten Umweltzerstörung und Covid-19 so rasant voran wie noch nie“, sagt Rocha. Lang ist die Liste der historischen Anführer, die vermutlich von Covid19 hingerafft wurden – von Vicente Saw der Mundurukú über Messias Kokama des gleichnamigen Stammes bis Antonio Bolívar, der in den kolumbianischen Spielfilmen „Abrazo de la serpiente“ und „Frontera Verde“ berühmt wurde und einer der letzten Vertreter des Ocaina-Volkes war.
 

Lateinamerika hat sich zum Epizentrum der Corona-Pandemie entwickelt. Während in Europa die Infektionszahlen zurückgehen, steigen sie in Lateinamerika rasant an. Gemeinsam mit seinen Projektpartnern hat Adveniat bereits mehr als 4 Millionen Euro als Nothilfe geleistet, um die Menschen medizinisch, sowie mit Lebensmittel- und Hygienekits zu versorgen. Mehr dazu


Dabei hatten sich die meisten schon tief in die Wälder zurückgezogen, als das Virus Lateinamerika erreichte. Sie untersagten den Zugang zu ihren Dörfern und versuchten, sich abzuschotten. Schließlich hatten eingeschleppte Seuchen wie Masern und Grippe schon zuvor Tausenden ihrer Völker das Leben gekostet, weil das Immunsystem der Indigenen nicht auf diese Erreger vorbereitet war.

Es nutzte nichts: Der erste Fall in ganz Amazonien wurde Ende März aus dem isolierten Javarí-Tal in der kolumbianisch-brasilianischen Grenzregion vermeldet. Eingeschleppt hatte es ein indigener Gesundheitshelfer, der in seine Heimat zurückgekehrt war. Indigene Rückkehrer aus den Städten waren ein Problem, sorglose Weiße ein weiteres. In Peru wurden lokale Funktionäre gefilmt, wie sie ohne Mundschutz und Handschuhe Lebensmittelhilfen an Indigene austeilten – einige von ihnen wurden später positiv getestet. Bei den Mundurukú am Tapajos verbreiteten Goldgräber das Virus, als sie im Mai Indigene mit Geschenken zu einer Versammlung lockten, um sie zur Einwilligung zum Goldschürfen zu bewegen. Die Behörden in Venezuela meldeten einen Infektionsherd bei den Pemones im Staat Bolívar, auf deren Stammesgebiet ebenfalls nach Gold gegraben wird. 
 

Die Gleichgültigkeit und Abwesenheit des Staates ist eines der Hauptprobleme. Keine Regierung der Amazonas-Anrainerstaaten habe die Indigenen im Blick, klagt die UNO. „Die Lage ist alarmierend, Covid-19 ist eine der größten Bedrohungen für die Lebensform der Indigenen. Die Staaten müssen das Überleben und die Rechte der Amazonasvölker schützen“, verlangt die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Stattdessen nutzen skrupellose Landgrabber den Rückzug der Indigenen aus, um tiefer in ihre Schutzgebiete vorzudringen. Stecken sie die Indigenen an, können diese sich nur auf traditionelle Heilkräuter oder prekär ausgestattete Gesundheitsposten verlassen. 

Der Staat leistet der Zerstörung und dem Genozid Vorschub. Bolsonaro will beispielsweise die Coronakrise nutzen, um illegale Landnahme zu legalisieren. Im April ist die Abholzung je nach Quelle um 64 oder sogar 171 Prozent angestiegen im Vergleich zum Vorjahresmonat. In Peru erklärte Präsident Martín Vizcarra Bergbau, Ölförderung, Kakao- und Palmölproduktion Anfang Mai zu systemrelevanten Aktivitäten – viele davon bedrohen direkt indigene Völker. Seither steigen die Zahlen der Infizierten und Toten am Amazonas: Am 1. Mai waren es 3217 positive Fälle und 206 Tote; Ende Mai 9412 Infizierte und 462 Tote. 

2,5-Millionen-Euro-Fonds für die Corona-Krise in Lateinamerika

Adveniat hat 2,5 Millionen Eurof für Projekte im Kontext der Corona-Krise in Lateinamerika und die Versorgung der armen Bevölkerung, die unter den Folgen dramatisch leidet, mit Lebensmitteln bereitgestellt.  „Das Virus breitet sich inzwischen auch von Mexiko bis Feuerland rasant aus“, berichtet Adveniat-Hauptgeschäftsführer Pater Michael Heinz. Mehr zur Hilfe von Adveniat

Im kolumbianischen Amazonasgebiet ist die Infektionsrate so hoch wie sonst nirgendwo im Land und die Sterblichkeit 63-mal höher als im Landesdurchschnitt, berichtet die NGO Sinergias. 1852 Infizierte und 64 Tote weisen die Statistiken im Juni aus. Als Antwort schickte die Regierung Nahrungsmittelpakete und Soldaten, um die Grenze abzuriegeln. Die ersten Fälle in Leticia stammten offenbar aus Brasilien. Doch das lokale öffentliche Hospital hat bis heute keine Intensivstation, die Sauerstoffanlage ist 30 Jahre alt, einen Notfallgenerator für die vielen Stromausfälle gibt es nicht und auch kein Labor, das Covid-19-Tests auswertet. Der indigene Abgeordnete im Regionalparlament, Camilo Suárez, war der erste, der auf die katastrophale Lage hinwies und der den Tod des Kaziken Bolívar verkündete. Eine Woche später starb Suárez selbst vermutlich an dem Virus.

Für Adveniat-Experte Thomas Wieland ruhen die Hoffnung der Kirche in Lateinamerika, die sich in den letzten fünf Jahren zusammengefunden hat: „Bei der Amazonas-Synode im Oktober letzten Jahres wurden deutliche Voten getroffen – zum Schutz des Amazonas-Waldes und zum Schutz der Menschen, die im Amazonasgebiet leben und die am meisten gefährdet sind: die indigenen Völker. Mit dieser Linie der Synode gibt es ein klares Votum gegen die Abholzung, gegen die rein wirtschaftliche Nutzung der Lunge der Welt.“

Text: Sandra Weiss/red