Adveniat-Partner aus Peru: "Corona-Pandemie ist schlimmste Krise seit über 100 Jahren"

Peru ist durch die Corona-Pandemie in die "schlimmste Krise seit über 100 Jahren" gestürzt und bekommt diese trotz anhaltend strenger Gegenmaßnahmen nicht in den Griff. So schildert Adveniat-Partner Padre Joan Goicochea aus Lima die Situation in dem südamerikanischen Land. Und nennt Gründe.

"Die erste Welle der Pandemie ist in Peru noch nicht vorbei", berichtete Juan Goicochea. Der Comboni-Missionar ist Pfarrer in Chorrillos, einer von Armut geprägten Vorstadt Limas mit über 300.000 Einwohnern. Den offiziellen Angaben zu den Corona-Toten misstraut er. "Täglich und allerorts sieht man derzeit Menschen an Sauerstoffmangel sterben, ohne dass sie je auf Corona getestet wurden - teils sogar auf der Straße vor den Kliniken", erzählt er im Interview mit der österreichischen Agentur "Kathpress". Hinzu komme, dass im Amazonas-Gebiet ein Großteil der indigenen Bevölkerung infiziert sei, ohne jegliche medizinische Versorgung und auch hier mit vielen Toten.

Der Verlauf der Pandemie erstaunt, galt Peru doch als eines der Länder, die am schnellsten reagierten. Schon eine Woche nach dem ersten bekannten Fall im März startete in dem Land der Lockdown, der über drei Monate dauerte. Und der Ausnahmezustand hält an: Erneut gelten derzeit in sechs Regionen und 36 Provinzen - somit für ein Drittel der Bevölkerung - Ausgehverbote, an Sonntagen sogar landesweit.

Padre Juan Goicochea. Foto: Pohl/Adveniat

"Wenn sie nicht arbeiten, haben ihre Familien nichts zu essen"

Warum die Gegenmaßnahmen viel zu wenig greifen, beantwortet Goicochera mit Verweisen auf die peruanische Soziologin Pilar Arroyo: "Einerseits leben Millionen Peruaner in kleinen, überbelegten Häusern ohne Möglichkeit zur Distanz, mehr als sechs Millionen auch ohne Wasseranschluss, was regelmäßiges Händewaschen verunmöglicht." Andererseits seien 72 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor beschäftigt und nicht sozialversichert. "Wenn sie nicht arbeiten, haben ihre Familien nichts zu essen", so der Geistliche.

Daneben gebe es logistische Probleme wie etwa, dass Sonder-Hilfszahlungen der Regierung zu langen Menschenschlangen bei den Banken und somit zu vielen weiteren Infektionen führten - "denn jeder Zweite in Peru hat kein Bankkonto", schildert der Ordensmann. Auch die Straßenmärkte seien durch zu wenig Hygiene zu Covid-19-Hotspots geworden, ähnlich wie der öffentliche Nahverkehr mit seinen alternativlosen, überfüllten Bussen. "Corona führt unsere Probleme vor Augen - besonders, dass der Wirtschaftsboom des Landes die Infrastruktur, Bildung und vor allem den Gesundheitssektor nicht erreicht hat. Die Gelder für Investitionen sind in der Korruption versickert. Für diese Fehler früherer Regierungen bekommt Peru nun die Rechnung serviert", so Goicochea.

Anstieg familiärer Gewalt und Kriminalität

Das Leid der Bevölkerung sei unbeschreiblich, denn "alles verschlimmert sich", sagt der Comboni-Missionar. 6,5 Millionen Menschen seien arbeitslos geworden, 2,7 Millionen davon allein in der Hauptstadt Lima. Viele versuchten, durch Straßenverkauf Einkünfte zu erzielen um zu überleben, was jedoch mehr schlecht als recht gelingt. Sorgen bereitet Goicochea auch die "psychologische Pandemie", erkennbar etwa am Anstieg familiärer Gewalt und Kriminalität sowie bei Traumatisierungen.
 

Für die Menschen in Lateinamerika in der Corona-Krise.


Medikamente und Sauerstoff sind zu absoluten Luxusgütern geworden

Am schlimmsten wiege allerdings die medizinische Misere. Goicochea: "Da es keine freien Krankenhausbetten mehr gibt, sterben fast alle Corona-Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf. Medikamente und Sauerstoff sind zu absoluten Luxusgütern geworden, da Apotheken, Privatkliniken und die Hersteller damit spekulieren, was die Preise auf das Fünf- bis Zehnfache in die Höhe trieb." Das Gesundheitssystem sei infolge der langen Vernachlässigung nicht auf Notfälle vorbereitet. Infolge fehlender Schutzmaßnahmen für das medizinische Personal verstarben bereits weit über 100 Ärzte in Peru am Coronavirus, rund 3.000 sind infiziert.

Da sich eine zweite Welle mit erneuter allgemeiner Quarantäne massiv auf die schon angeschlagene Wirtschaft auswirken und den Kampf gegen die Armut um Jahrzehnte zurückschlagen würde, müsse Peru in der Krise seine Schwächen erkennen und rasch aus Fehlern lernen, mahnt Goicochea. Anlass zur Hoffnung sieht er trotz allem. "Was uns am Leben hält, ist die Solidarität zwischen den Menschen wie auch die kleinen Hilfsbrücken von außen. Jeder hat viel zu geben, damit sich unser Land wieder aufrichtet."

3.500 Familien wurden bisher durch ein Freiwilligenteam der Pfarrei von Padre Juan mit Lebensmittelpaketen versorgt. Archivfoto: Pohl/Adveniat

Pfarrei zu "Corona-Hilfswerk" umfunktioniert

Dies sei auch das Anliegen der katholischen Bischöfe Perus, die am 20. August das Pastoralprogramm "Peru erhebt sich jetzt" gestartet haben. Dessen Ziel ist es, im Dialog mit der Regierung Solidaritätsaktionen sowie Netzwerke von Kirche, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu stärken.

Seine eigene Pfarrei hat Goicochea - auch mit Hilfsgeldern aus Europa - in den vergangenen Monaten zu einem Corona-Hilfswerk umfunktioniert. 3.500 Familien wurden bisher durch ein Freiwilligenteam mit Lebensmittelpaketen versorgt, mithilfe eines Arztes und einer Krankenschwester wurde eine kleine Notfall-Apotheke eingerichtet. Sogar acht Sauerstofftanks konnte die Pfarrei kaufen, die jetzt an Haushalte mit Corona-Patienten verliehen werden. "Ich selbst instruiere die Familien im Gebrauch und bringe zugleich die Krankenkommunion", so der Pfarrer, der selbst von der Infektion bislang verschont blieb. Die Warteliste für die Tanks sei aber lang. (kna)