Brasilien: "Hunger und Rechtlosigkeit kehren zurück"

Adveniat-Brasilienreferent Norbert Bolte erlebt bei seinem aktuellen Aufenthalt ein Land, in dem Hunger, Elend und Rechtlosigkeit für viele Menschen wieder zur Normalität werden. Dabei galt Brasilien bis vor wenigen Jahren noch als aufstrebendes Schwellenland.

Der Agro-Industrie ist jedes Mittel recht, um Kleinbauern und Indigene zu vertreiben. Das berichtet der Dominikaner Xavier Plassat, der sich seit Jahrzehnten für die Befreiung von Menschen aus sklavenähnlichen Verhältnissen engagiert.
Der Agro-Industrie ist jedes Mittel recht, um Kleinbauern und Indigene zu vertreiben. Das berichtet der Dominikaner Xavier Plassat, der sich seit Jahrzehnten für die Befreiung von Menschen aus sklavenähnlichen Verhältnissen engagiert. Foto: Adveniat/Florian Kopp

„Ich erlebe ein Land, in dem Hunger, Elend und Rechtlosigkeit für viele Menschen, insbesondere die benachteiligten Gruppen wie Indigene, Afro-Brasilianer und Kleinbauern wieder zur Normalität werden.“ Das berichtet der Brasilien-Referent des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, Norbert Bolte, aus dem südamerikanischen Land, das noch vor Kurzem als wirtschaftlich aufstrebendes Schwellenland gehandelt wurde. Neben dem wirtschaftlichen Aufschwung waren während der Präsidentschaft von Luis Inácio Lula da Silva (2003–2010) und seiner Nachfolgerin Dilma Roussef (2011–2016) mit Hilfe verschiedener Sozialprogramme mehr als 20 Millionen Brasilianer aus der extremen Armut befreit worden.

Nach einem Amtsenthebungsverfahren, das von vielen als parlamentarisch-juristischer Putsch gewertet wurde, folgte auf die „linken“ Präsidentschaften der Arbeiterpartei mit Michel Temer ein konservativ ausgerichteter Politiker an die Macht, der der reichen brasilianischen Oberschicht angehört.

Adveniat-Brasilienreferent Norbert Bolte
Adveniat-Brasilienreferent Norbert Bolte. Foto: Adveniat/Martin Steffen

Für Bolte bestätigt sich auf seiner Brasilienreise die Befürchtung, dass nach der umstrittenen Übernahme des Präsidentenamts durch Michel Temer 2016 die alten Eliten wieder allein die Macht in den Händen halten. „Sie plündern das an Bodenschätzen und fruchtbaren Ackerflächen reiche sowie mit einer unvergleichlichen Biodiversität gesegnete Land aus“, kritisiert Bolte. „Adveniat-Partner wie der Dominikaner Frei Xavier Plassat, der sich seit Jahren für die Befreiung von Landarbeitern aus sklavenähnlichen Verhältnissen einsetzt, haben mir berichtet, dass der Agro-Industrie jedes Mittel recht ist, um die Indigenen und Kleinbauern aus ihren angestammten Territorien zu vertreiben. Sie drohen den Menschen mit Gewalt und Mord, vergiften Land und Flüsse, um so immer weiter in das Amazonasgebiet vorzurücken. Und das alles mit Rückendeckung von Polizei, Justiz und Politik in der Hauptstadt Brasília.“

Übergriffe habe es auch früher gegeben. Die Menschen hätten sich aber an staatliche Institutionen wenden können, um für ihre Rechte zu kämpfen. „Große Teil der Bevölkerung fühlen sich heute von sämtlichen staatlichen Instanzen im Stich gelassen und um ihre Rechte betrogen“, fasst Adveniat-Experte Bolte die Aussagen der kirchlichen Partner vor Ort zusammen.

Radikale Form des Protestes: Eine Gruppe um den Franziskaner Sérgio Görgen (dritter von links) sind am 31. Juli in den Hungerstreik getreten.
Radikale Form des Protestes: Eine Gruppe um den Franziskaner Sérgio Görgen (dritter von links) sind am 31. Juli in den Hungerstreik getreten. 

Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Respekt gegenüber der Verfassung

Zu einer extremen Form des Protestes gegen die Rückkehr von Hunger sowie für den Respekt gegenüber der Demokratie und der brasilianischen Verfassung haben sich sechs Aktivisten um den Franziskaner Frei Sérgio Görgen entschieden. Seit dem 31. Juli befinden sie sich im Hungerstreik. Diese radikale Form des Widerstandes wird innerhalb der Kirche aber auch unter Nichtregierungsorganisationen durchaus kritisch gesehen. Ausdrücklich auf die Seite der Hungerstreikenden hat sich die „Conferência da Familía Franciscana do Brasil“ (Konferenz der franziskanischen Ordensfamilie in Brasilien) gestellt. Denn „seit der Machtübernahme einer illegitimen Regierung mittels eines von der Verfassung nicht gedeckten Amtsenthebungsverfahrens gegen eine legitim gewählte Präsidentin 2016 befindet sich die brasilianische Gesellschaft in einer Situation, in der Elend, Hunger, Gewalt, Rechtlosigkeit und Respektlosigkeit gegenüber der Verfassung zunehmen.“ Deshalb fordern die Männer- und Frauenorden der Franziskaner vom Obersten Gerichtshof, „auf die Klagen der Mehrheit des brasilianischen Volkes zu hören sowie Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Respekt gegenüber der Verfassung wieder herzustellen“.

Hinter den Kulissen setzen sich brasilianische Bischöfe aber auch Vertreter der Zivilgesellschaft für ein Ende des Hungerstreiks ein. Ein zentrales Merkmal einer Demokratie ist die Unabhängigkeit der Justiz. Diese ist für die Streikenden nicht mehr gegeben, weil der wegen Korruption angeklagte und auch in zwei Instanzen verurteilte Ex-Präsident Lula seine Haftstrafe antreten musste, ohne dass er alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen konnte. Die Folge: Für Lula ist eine Teilnahme an der Präsidentenwahl am 7. Oktober voraussichtlich nicht möglich. Dem nach wie vor beliebtesten Politiker würden jedoch gute Chancen auf eine erneute Wahl eingeräumt. Die Streikenden fordern, dass das Bundesverfassungsgericht eine Abstimmung über eine bereits vorliegende Feststellungsklage eröffnet. So soll geprüft werden, ob die Inhaftierung von Personen verfassungskonform ist, die – wie im Fall Lula – lediglich in zweiter Instanz verurteilt wurden, und denen weitere rechtliche Schritte offenstehen. Sind sie es nicht, so wäre Lula freizulassen bis ein entsprechendes Urteil des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshof vorliegt. Kommt diese Abstimmung zustande, sind Frei Görgen und die anderen Aktivisten wohl bereit, ihren Hungerstreik zu beenden.