„Wir kämpfen gegen einen Giganten“
Traditionelle Fischerfamilien in Brasilien durch Bau- und Umweltschutzprojekte bedroht

Hunderte Fischer-Familien im Nordosten Brasiliens stehen vor dem Nichts. Ihr bescheidenes Einkommen hängt vom traditionellen Fischfang ab, doch der wachsende Industriehafen in Suape und der Bau eines Güterbahnhofs bedrohen ihre Existenz. Inmitten der Verzweiflung, die bei manchen gar in Selbstmordversuchen endet, stehen ihnen mutige Partner des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat zur Seite.

Die malerische Mangroveninsel Cocaia zwischen den beiden Orten Cabo de Santo Agostinho und Ipojuca stellt einen der letzten verbliebenen Fischgründe für die traditionelle Fischerei dar. Hier tummeln sich auch seltene Arten, die von den umsichtigen Fischerinnen und Fischern nicht angerührt werden. Gleich daneben im Industriehafen Suape legen Frachtschiffe aus aller Welt an. Das Industriegebiet wächst unaufhörlich. Für den Bau eines privaten Eisenbahn-Terminals soll nun die Cocaia-Insel, die bislang unter Naturschutz stand, entfernt werden. Damit fällt der Industrie ein bedeutendes Ökosystem mit zahlreichen Meerestieren zum Opfer und die Fischer-Familien werden ihrer Lebensgrundlage beraubt. Es drohen Umweltverschmutzung, Verseuchung und Zwangsumsiedelungen.

Allein nördlich des Hafens sind acht traditionelle Fischergemeinden von den Plänen betroffen. Es sind vor allem Frauen, die die schwere Arbeit auf den kleinen Booten verrichten. Um 4 Uhr morgens geht es täglich raus aufs Meer, Zeit zum Schlafen bleibt ihnen kaum. „Vor ein paar Jahren haben wir noch bis zu sechs Säcke am Tag gefischt, inzwischen ist es vielleicht einer. Durch die Bohrungen am Hafen sterben so viele Fische. Es ist schwer zu ertragen, wie sie in Massen auf den Steinen verenden“, schildert die Fischerin Girleide Maria da Silva.

Für die Unterstützung von Menschen in Lateinamerika.

Bewahrung von Traditionen und Umwelt

Die Fischerinnen und Fischer sind hier die Hüter der Natur. Ihre traditionelle Art zu fischen schont die lokalen Ökosysteme und verbraucht deutlich weniger Energieressourcen. Im Kontrast dazu stehen die Folgen des Hafenausbaus seit den 90er Jahren. „Der Ausbau des Hafens bringt das natürliche Gleichgewicht völlig durcheinander“, kritisiert Norbert Bolte, Brasilien-Referent beim Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat.

„Der Hafen vernichtet die traditionelle Fischerei, von der wir alle abhängen.“ Die Fischerin Maria José da Silva verzweifelt an der Naturzerstörung durch den Hafen-Ausbau in Suape. Foto: Lambertz/Adveniat.

Die Netze bleiben oft leer: Traditionelle Fischer vor dem industriellen Hafenkomplex in Suape. Foto: Lambertz/Adveniat.

Kampf gegen einen Giganten

Der industrielle Hafenkomplex ist eng verbunden mit der Regierung von Pernambuco, die für das Bahnhofsprojekt umgerechnet über eine Milliarde Euro organisiert hat. „Wir kämpfen gegen einen Giganten“, erklärt Ornela Fortes, Juristin des Conselho Pastoral dos Pescadores, die sich für die Rechte der armen Familien einsetzt. „Die Politik der Regierung von Jair Bolsonaro ist verheerend für die traditionelle Fischerei. Die Angriffe auf die Demokratie und auf historisch vulnerable Gruppen wie Frauen, Schwarze und Indigene nehmen deutlich zu.“ Unterstützt vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat klären Ornela und ihre Kolleginnen und Kollegen der Fischerpastoral die Fischerinnen und Fischer über Ihre Rechte auf. Da sie ihre langen Arbeitstage in Isolation auf dem Wasser verbringen, ist diese Informationsarbeit für sie überlebenswichtig. Norbert Bolte sieht in der Fischerpastoral „eine wichtige Anwältin für die kleinen Fischer“, die so bessere Chancen in ihrem täglichen Überlebenskampf haben. Adveniat unterstützt seine Partner vor allem dort, wo die Existenzgrundlage der Fischerinnen und Fischer bedroht ist. Sie leben ohnehin in prekären Verhältnissen mit katastrophaler Abwasserversorgung. In der Pandemie hat sich ihre Lage weiter verschlechtert, Adveniat-Soforthilfen haben sie mit dem Nötigsten versorgt.

Die Mitarbeiter der Fischerpastoral um Laurineide Santana (rechts) helfen den Fischerfamilien mit rechtlichem und psychologischem Beistand. Foto: Lambertz/Adveniat

Die Rechtslage ist undurchsichtig

Die Hafenverwaltung versucht, den Anwohnern neue Tätigkeiten wie die Austernzucht schmackhaft zu machen. Dass dies jedoch neue Umweltschäden sowie gravierende arbeitsrechtliche Konsequenzen wie den Verlust der Fischerlizenz zur Folge hätte, verschweigen die Hafen-Vertreter. „Der Hafen gibt vor, sich für uns Fischer einzusetzen, doch das tut er nicht. Im Gegenteil: Indem sie die Natur zerstören, vernichtet sie die traditionelle Fischerei, von der hier so viele Familien abhängen“, klagt die Fischerin Maria José da Silva. „Gott sei Dank, dass uns die Fischerpastoral zur Seite steht. So lernen wir viel über unsere Rechte“, ergänzt ihre Mitstreiterin Girleide Maria da Silva.

Für die Unterstützung von Menschen in Lateinamerika.

Die Fischerpastoral als letzter Rettungsanker

Neben der Rechtsberatung leisten die Adveniat-Partner der Fischerpastoral CPP auch psychologischen Beistand. Der Grund: Im Zuge des Hafenausbaus leiden immer mehr Fischerinnen und Fischer in Suape unter Existenzängsten. Manche sind so verzweifelt, dass sie sich das Leben nehmen wollen. Mit Entsetzen berichtet die Juristin Ornela Fortes von dem Fischer Bill, der nach seiner gewaltsamen Zwangsumsiedlung in eine schwere Depression abrutschte und starb.

CPP-Präsident Severino Antônio weiß um die Bedeutung des seelischen Beistands: „Die Fischerfamilien brauchen menschliche Wärme, die sie bestärkt und ihnen die Freude an ihrem traditionellen Handwerk zurückgibt.“ Unter Severinos Leitung haben die Mitarbeiter der Regionalgruppe vier Staaten in Brasiliens Nordosten zugleich im Blick: Alagoas, Pernambuco, Paraiba und Rio Grande do Norte. Das macht insgesamt rund 1000 Kilometer Küstenlinie und etwa 30.000 Familien, die begleitet werden. Ihre Probleme ähneln sich: Wirtschaft und Politik missachten ihre Rechte, sie werden aus ihren Dörfern vertrieben und durch Umweltzerstörung ihrer Lebensgrundlage beraubt. Die Adveniat-Partner stehen den Familien bei all diesen Herausforderungen zur Seite. Außerdem helfen sie den Fischerinnen und Fischern bei Gesundheitsthemen, denn der Alltag auf See ist hart und hat neben der körperlichen Erschöpfung nicht selten Hautkrebs und Augenkrankheiten zur Folge.

Neue Bedrohungen in Sicht

Inmitten des aufreibenden Prozesses um den Hafenausbau und die Bahnhofspläne erwartet die Fischerfamilien in der Region um Cabo de Santo Agostinho und Ipojuca schon die nächste gigantische Bedrohung: Die UNESCO plant mit der Regierung ein geologisches Schutzgebiet. Allerdings soll das Projekt mit dem imponierenden Namen „Geopark“ vom Suape-Hafen umgesetzt werden. Das besorgt die Fischerfamilien und ihre Unterstützer zutiefst. Die Angst vor weiteren Vertreibungen wächst. Sie befürchten, auch noch ihre letzten übriggebliebenen Rückzugsorte zu verlieren. Laurineide Santana, Mitarbeiterin der Fischerpastoral stellt fest: „Diese Allianz zwischen Regierung und Hafen ist extrem gefährlich. Wenn die verantwortlich sein sollen für Naturschutz, dann ist das so als sorge der Fuchs für die Hühner.“ Gut möglich, dass die UNESCO von diesen Gefahren nicht einmal weiß. Die Fischerpastoral sucht bereits den Dialog. Der Kampf gegen die Giganten im Namen der armen Fischerfamilien geht in jedem Fall weiter.

Text: Titus Lambertz